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Full text of "Trendelenburg und die dialectische Methode Hegels [microform]: ein kritischer Versuch"

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MASTER 
NEGA  TIVE 

NO.  93-81477 


MICROFILMED  1993 
COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES/NEW  YORK 


as  part  of  the 
"Foundations  of  Western  Civilization  Preservation  Project" 


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NATIONAL  ENDOWMENT  FOR  THE  HUMANITIES 


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would  involve  violation  of  the  Copyright  law. 


AUTHOR: 


SOHR,  MAXIMILIAN 


TITLE: 


TRENDELENBURG  UND 
DIE  DIALECHTISCHE... 

PLACE: 

HALLE 

DA  TE : 

1874 


COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES 
PRESERVATION  DEPARTMENT 

BIBLIOGRAPHIC  MTCROFORM  TARCFT 


Original  Material  as  Filmed  -  Existing  Bibliographie  Record 


Master  Negative  # 


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Centimeter 

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1898 


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TRENDELENBURCt 


UND  DIE 


DIALECTISCHE  METHODE  HEGELS. 


EIN  KRITISCHER  VERSUCH, 

VERFASST  UND  BEHUFS 

ERLANGUNG  DER  PHILOSOPHISCHEN  DOCTORWÜROE 

3IIT    GENEHMIGUNG 

DER  HOHEN  PHILOSOPHISCHEN  FACULTÄT 

DER  KÖNIGLICHEN  UNIVERSITÄT  HALLE -WITTENBERG 

am   23.   December   1874    11  Uhr   früh 

IN  DER  AULA  DER  UNIVERSITÄT 

GEGEN  DIE  HERREN: 

J.    Y.   KARWOWSKI,    DR.    MED. 

R.  BRAXATOR,  dr.  phil., 

Gymnasiallehrer  in  Kattowitz. 
R.    MISCHER,    CAND.    MATH. 

B.  PÜDZMENSKY,  stud.  phil. 

VON 

MAXIMILIAN  SOHR. 


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HALLE  A.D.SAALE. 


DRUCK  VON  J.  P.  STARCKE  IN  BERLIN. 


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ANDENKEN  MEINES  VATERS. 


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aim^isfenL '.«Ö^^s  in    der  Jetztzeit   die  Bedingungen  für  systembil- 
dende pliilösophische  Thätigkeit  nicht  vorhanden  sind,  hatHaym') 
nachgev/iese'pvV'P'ie  Tnatsaphe,  dass  kein  neues  System  seit  Hegel 
erstanden    ist ,   und    die  Versuche   systematischen  Philosophirens 
nicht  Epoche  gemacht  haben,   bestätigt   es.  —  Einzelne  Aeusse- 
rungen  Trendelenburg's  charakterisiren  nun  Absicht  und  Methode 
der  historischen  Philosophie.     Sie  ist  zufrieden,  wenn  mir  Philo- 
sophisches  gewonnen  wird,    nicht   Philosophie    als    wissenschaft- 
liche Totalität  (Log.  Unters.  I.  3);  sie  begnügt  sich  nicht  mit  dem 
Kampf  gegen    Thatsachen,  die  sich  dem  Gedanken  nicht  ergeben 
wollen^  sondern  nimmt  auch  den  gegen  Meinungen,  die  sich  ent- 
gegenstellen, auf  (Einl.  VIII.) ;  sie  strebt  nicht  nach  individueller 
Eigenart  und  falscher  Originalität,  nicht  nach  einem  neu  formu- 
lirten  Princip^  sondern  ergiebt  sich  der  tieferen  Untersuchung  der 
Grundhegriffe    und    folgt   der  geschichtlichen  Entwickelung   der 
grossen  Gedanken   in  der  Menschheit   (ebenda  IX— X.),    immer 
freilich  auf  eigenem   Wege.     Indessen   würde  es   ein  Irrthum  sein 
anzunehmen,   dass   die  Philosophie   dieser  Richtung  zum  Funda- 
ment ihres  Philosophirens  schlechtweg  nur  die  aus  einer  absichts- 
losen Kritik   des   Ueberkommenen  erzielten  Resultate   verwende. 
Weder  ist  dies  Fundament  das  einzige,  noch  ist  die  Kritik,  durch 
die   es   gewonnen   wird,    eine   rein   objektive.     Beides   würde  der 
menschlichen  Natur  widersprechen ,   die  nach  Selbständigkeit  und 
Selbstthätigkeit,  nach  einem  eigenen   Wege  ringt,  und  eine  Welt- 
Anschauung   wäre    eine   contradictio  in  adjecto,  wenn  sie  nur 
aus   den   Abstraktionen   philosophischer   Vorgänger  zusammenge- 
borgt wäre.     Jedes  Individuum   hat  gewisse  ihm   eigenthümliche 
Anschauungen,  Meinungen  und  Principien ;  wer  kann  sagen,  woher 
sie   in   ihrer  Subjektivität  stammen  ?    Aber  sie   sind  so  fest  mit 
der  Persönlichkeit  verwachsen,  dass  man  sie  nur  mit  dieser  selbst 
auslöschen  kann.    Eben  sie  bringt  der  Kritiker  trotz  besten  Wil- 
lens objektiv  zu  sein  an  seine  Kritik  mit  heran,  und  letztere  steht 
unter  ihrem  Einfluss;   sie   mischt  er  bald  unvermerkt,   bald   ab- 
sichtlich  unter    sein  philosophisches  Material,   welches    ihm  die 

*)  Haym,  Hegel  und  seiae  Zeit.    S.  356. 


—     3    — 

Kritik  der  Vorgänger  und  Gegner  geliefert  hat;  solche  Selbst- 
thätigkeit durchdringt  sein  ganzes  Philosophiren,  wie  dieses  jene; 
es  ist  eine  unausgesetzte  Wechselwirkung,  der  wir  schliesslich  das 
gewonnene  Philosophische  verdanken;  es  ist  nicht  blos  gebessert, 
sondern  geändert,  nicht  nur  untersucht,  sondern  geschaffen,  nicht 
nur  kritisch,  sondern  positiv  philosophirt  worden. 

Hiermit   ergiebt  sich   ein  doppelter  Gesichtspunkt,    von  dem. 
aus   ein  Werk  jener  historischen   Richtung  betrachtet,    von  dem 
aus    namentlich   eine   Untersuchung   seines    kritischen  Verfahrens 
angestellt  werden  kann.     Macht  man  das  Positive  des  Verfassers 
zur  Hauptsache,  so   ergiebt  sich  die  Frage,   wie  es  sich  mit  den 
gegentheiligen  Absichten  der  kritisirten  Forscher  abgefunden  habe, 
und  ob  es  im  Verhältniss  zu  ihnen  und  an  sich  zu  Recht  besteht. 
Geht  man  von  dem  kritisirten  System  aus,  so  bieten  sich  dessen 
Hauptpunkte,  namentlich  die  zumeist  angegriffenen,  als  natürliches 
Eintheilungsschema  für  die  Betrachtung.    Allein  eine  solche  Tren- 
nung der  Erörterungskreise  hat  ihre  Nachtheile ;  vor  Allem  zwingt 
sie  zu  Wiederholungen.    Theilen   wir  z.  B.  unsere  Aufgabe    nach 
Trendelenburg's  ^ )  Hauptprincipien :    Anschauung,   Bewegung  und 
Zweck  und   erörtern    dieselben  erst  im  Bereich  des  7^einen  Den- 
kens, dann  der  Negation,  der  Identität,  des  immanenten  Zusam- 
menhangs u.  s.  f.,   so  gewinnt  das  Ganze  allerdings  den  Anblick 
eines   sehr  regelmässigen  Baues  mit  so  und  so  viel  Stockwerken 
zu    so   und  so  viel  Zimmern.     Aber  in    diesem   Bau   wiederholen 
sich  die  Verhältnisse  und  Einzelnheiten  von  unten  bis  oben.     Es 
scheint   daher  zweckmässig   beide   Schemata    zu   verbinden,    die 
Haupteinwände  Trendelenburg's  und  die  Hauptangriffsobjekte  der- 
selben bei  Hegel,  jeden  für  sich  zu  betrachten,  wo  sich  dann  die 
Wiederholungen  auf  ein   möglichst  geringes  Maass   einschränken 
lassen.    Aus  der  Untersuchung  selbst  wird  es  sich  rechtfertigen, 
warum  ein  Hegelsches  Element,   das  reine  Denken,   den  Anfang 
macht,   zwei  Trendelenburgsche  folgen,    nämlich  Bewegung  und 


* )  Der  vorliegende  Versuch  bezieht  sich  nur  auf  die  Logischen 
Untersuchungen,  da  sich  Die  logische  Frage  in  Hegel's  Sy- 
stem auf  die  Abwehr  der  Antikritiken  der  Hegelianer  beschränkt. 

1* 


^    4    — 

Anschauung,  dann  wieder  mit  Negation,  Identität  u.  s.  w.  Hegel 
zur  Norm  wird,  bis  das  Ganze  mit  dem  Hegel-Trendelenburgschen 
Zweck  seinen  Abschluss  findet. 


Tom  reinen  Denken. 

Es  giebt,  sagt  Trendelenburg  (log.  Unt.  II.  490) ,  für  uns 
Menschen  kein  reines  Denken;  denn  wie  eine  Seele  ohne  Leih, 
hätte  es  ohne  Anschauung  kein  Lehen,  sondern  nur  ein  geister- 
ha/tes,  gespenstisches  Dasein. 

Der  Ausdruck  reines  Benken  stammt  aus  der  Hegeischen 
Terminologie.  Was  hat  er  zu  bedeuten?  Ein  sich  wirklich  von 
der  Anschauung  lossagendes  Denken?  Oder  hat  Trendelenburg, 
wie  die  Hegelianer  ihm  vorwerfen,  dem  Hegeischen  Ausdrucke 
einen  unhegelschen  Sinn  untergeschoben.  Und  ist  es  wahr,  dass 
sich  das  Benken  seihst  tödtet,  wenn  es  sich  von  der  Anschauung 
lossagt?  Was  die  letzte  Frage  betrifft,  so  ist  nach  Trendelenburg 
Anschauung  und  Denken  unzertrennlich.  Aber  doch  verschieden, 
doch  zweierlei?—  Wenn  das,  so  fragt  es  sich:  wo  ist  die  Grenze 
zwischen  ihnen? 

Die  formale  Logik  antwortet  hierauf;  nach  ihr  bildet  sich  durch 
die  Wiederholung  der  Anschauung  zunächst  die  Vorstellung;  sie 
ist  innere,  d.h.  nicht  von  aussen,  sondern  durch  die  Erinnerung 
(eine  dem  Denken  heterogene  Thätigkeit  des  Geistes)  vermittelte 
Anschauung,  bei  der  die  Denkthätigkeit  weder  aktiv  noch  passiv 
betheiligt  ist;^)  denn  auch  der  Denkunfähige  (das  unmündige 
Kind;  Blödsinnige;  Thiere)  hat  Vorstellungen.  Der  Begriff  erst, 
aus  der   Vorstellung  auf  eigenthümlichem  Wege  erwachsend,  ist 


5)  Die  Theilung  der  Vorstellungen  in  Wahrnehmungs  vor  Stel- 
lungen und  Vorstellungen  des  Denkens  bei  v.  Kirchmann,  Philos. 
Biblioth.  I.  11  ist  nicht  zu  billigen,  so  lange  nicht  dargethan  ist,  welcher 
Unterschied  zwischen  letzteren  und  den  Begriffen  obwaltet.  In  der  That 
sucht  man  bei  K.  diesen  Unterschied  vergebens;  dass  aber  der  Begriff 
nicht  vorstellbar,  mithin  nicht  Vorstellung  ist,  wird  unten  zur  Sprache 
kommeu. 


—    5    — 

das  Characteristicum  der  normalen  Denkthätigkeit.  Dieser  aber 
entsteht  aus  den  Vorstellungen  durch  Zergliedern  derselben  und 
durch  Zusammenfassen  der  ihnen  geraeinsamen  Merkmale;  es  ist 
also  das  Denken  ein  Ordnen')  der  Vorstellungen,  oder,  inwie- 
weit man  die  Vorstellungen  als  der  Wirklichkeit  entsprechend  an- 
sieht, ein  Ordnen  des  gegebenen  Realen.  Das  Ordnen  kann  sich 
nun  allerdings  nicht  bethätigen  ohne  ein  zu  Ordnendes;  es  liegt 
in  dem  Worte  selbst" der  Begriff  eines  Verhältnisses,  einer  Be- 
ziehung, zu  der  der  andere  Theil  fehlen  würde,  wenn  man  die  Be- 
griffe, als  die  Resultate  der  Anschauung,  beseitigt. 

Allein  die  Beobachtung  lehrt,  dass  nicht  einmal  die  Resul- 
tate dieser  ordnenden  Thätigkeit  vorgestellt  werden  können.  Der 
Begriff  bereits  ist  schlechthin  nichts  Vorstellbares.  ^)  Man  ver- 
suche nur  sich  den  Begriff  Pferd  vorzustellen,  d.  h.  ohne  Alter, 
Farbe  und  Geschlecht  etc.  daran  zu  bestimmen,  wie  dies  der  Be- 
griff erheischt ;  es  ist  unmöglich :  wir  können  uns  nur  entweder 
eine  Stute  oder  einen  Hengst,  einen  Schimmel  oder  Fuchs  oder 
Rappen  u.  s.  w.  vorstellen;  wir  können  den  Begriff  des  Pferdes 
mit  mehr  oder  weniger  Genauigkeit  zergliedern,  seine  Merkmale 
aufzählen  u.  s.  w.    Aber  sie  in  eine  Vorstellung  zu  vereinigen  ist 


«)  In  diesem  Sinne  nennt  Ulrici,  System  d.  Logik  S.  10  ff.  als  specifi- 
sches  Kennzeichen  des  Denkens  das  Unterscheiden.  Auch  das  Allge- 
meine, welches  Hegel,  Encycl.  §.  20,  und  Erdmann,  Grundr.  d.  Log.  §.  5, 
als  Produkt  des  Denkens  bezeichnen,  kann  nur  durch  ein  Ordnen  gewon- 
nen werden ;  es  ist  die  Quintessenz  der  aristotelischen  Topik.  Nicht  minder 
ist  Haym's  (Hegel  u.  s.  Z.  S.  314  vgl.  S.  247)  Jsolireu  eine  ordnende  Thätigkeit. 
(Man  wird  daher  dem  Satze  Hegel's,  Encycl.  §.  22  Zus.:  Dasjetiige,  was 
beim  Nachdenken  herauskömmt,  ist  ein  Produkt  unseres  Denkens,  nur  SO  weit 
zustimmen  können,  dass  die  Verbindungs-  oder  Trennungsform  des  nicht 
vom  Denken  producirteu  Realen  als  ein  Produkt  des  Denkens  gelten  darf. 
Das  Band  ist  neu ,  das  Verbundene  nicht.  Deutlich  ist  dies  in  der  §.  23 
folgenden  Erklärung  nicht  ausgesprochen.)  Ferner  nennt  Hobbes,  Leviath. 
C.  5,  Vernunft  die  Fähigkeit  zu  addiren  und  zu  subtrahiren  u.  s.  w.  Vgl. 
auch  Plato,  Phaedr.  S.  249  B. 

7)  Hegel,  Encycl.  §.  24  Zus.  1;  Die  sinnliche  Empfindung  hat  es 
immer  7iur  mit  eitlem  Einzelnen  zu  thun.  Vgl.  Erdm.,  Gr.  d.  Log.  §.  192 
Anm.  2.  —  ülrici,  Syst.  d.  Log.  S.  454. 


—    6    — 


-     7    — 


unmöglich.')  Und  doch  ist  das  Begriflfbilden  die  erste  und 
hauptsächlichste  Thätigkeit  des  Denkens;  und  doch  kann  der  Be- 
griff ohne  Hülfe  des  Denkens  nicht  zu  Stande  kommen,  weil  zwi- 
schen Vorstellen  und  Denken  kein  weiteres  vermittelndes  Geistes- 
vermögen mitten  inne  steht*/)  und  doch  operirt  das  Denken  und 
(namentlich)  die  Sprache  mit  diesen  geisterhaften,  gespenstischen 
Schatten,  indem  sie  die  Schatten  der  Schatten  auffängt  und  vom 
Abstrakten  immer  weiter  abstrahirt. 

Wenn  man  hiernach  zugeben  muss,  dass  der  Begriff  nicht 
vorstellbar  ist,  geschweige  denn  anschaubar;  und  dass  ferner  das 
Denken  auf  den  Begriff  angewiesen  ist,  so  ergiebt  sich,  dass  ent- 
weder das  Denken  überhaupt  unmöglich,  oder  aber  das  reine  Den- 
ken möglich  ist,  wenn  man  unter  demselben  nur  das  von  der  An- 
schauung als  solcher  sich  lossagende  Denken  versteht;  wer  daher 
die  Möglichkeit  des  Denkens  überhaupt  nicht  leugnen  will,  muss 
zugeben,  dass  das  Denken  ohne  Anschauung  als  solche  (nicht  als 
Mutter  der  Vorstellung)  möglich  ist,  und  dass  also  Hegel,  wenn 
die  Unmöglichkeit  seines  reinen  Denkens  zu  Recht  bestehen  soll, 
darunter  das  anschauungslose  nicht  gemeint  haben  kann. 

Aus  dem  ersten  Satze  ergiebt  sich ,  dass  die  Kluft  zwischen 
Sein  und  Denken  erst  mitten  im' Wesen  des  Begriffs,  mitten  im 
Verlauf  seiner  Bildung  sich  aufthut,  dass  von  hier  an  erst  der 
problematische  Charakter  des  Denkens  überhaupt  datirt.  Zwar,  auf 
welche  Weise  die  Anschauung  in  uns  entsteht,  auf  welche  Weise 
die  Anschauungen  in  ihrer  Wiederholung  die  Vorstellung  erzeugen; 
auch  dies  sind  Probleme,  die  der  Untersuchung  über  die  Möglich- 
keit alles  Denkens  vorausgehen  müssten.  Aber  sie  sind  kein  Pro- 
blem der  Logik  oder  Metaphysik.  Und  das  Hauptproblem  bleibt 
immer  die  Frage:  wie  entsteht  aus  Vorstellbarem,  d.  h.  (wenn 
auch  nur  innerlich)  Anschaubarem  ein  Nichtvorstellbares,  welches 
unsrer  Natur  mithin  fremd  ist,   und  mit  welchem  sie  gleichwohl 

®)  Hegel,  Eucycl.  §.  3:  Bei  einem  Begriffe  ist  nichts  weiter  zu  denken 
ah   der  Begriff  seihst  u.  s.   w. 

8)  weil  mit  Hegel's  (Encycl.  §.  1)  Worten  der  denkende  Geist  nur  durchs 
Vorstellen  hindurch  und  auf  dasselbe  gewendet  zum  denkenden  Erkennen  und 
Begreifen  fortgeht. 


als  m.it  einem  ihr  selbst  Commensurabeln  und  Congenuinen  ope- 
rirt? Diese  Frage  hat  weder  Hegel  noch  Trendelenburg  beant- 
wortet; sie  haben  sie  nicht  einmal  aufgeworfen. 

Der  zweite  der  obengenannten  Sätze  führt  auf  die  Frage,  was 
denn  nun  Hegel  unter  dem  reinen  Denken  verstanden  habe.  Wenn 
es  auch  für  ihn,  wie  Trendelenburg  rügt,  kein  Operiren  mit  An- 
schaubarem ist.  was  ist  es  dann  positiv?    Wie  entsteht  und  was 
thut  es?    Und  wie  verhält  es  sich  zu  jenem  Ordnen  des  Realen? 
Der  Begriff  entsteht  durch  Zergliedern  und  Zusammenfassen, 
d.  h.  durch  Abstrahiren  (dcpatpeiv  =  wegnehmen);   wir  nehmen 
den  Vorstellungen  ihre  Merkmale  (Bestimmtheiten,  wie  Hegel  sagt)     * 
weg,  um  irgend  etwas  Neues  damit  anzufangen.    Es  ist  klar,  dass 
dieses  Fortnehmen  nur  so  lange  fortgesetzt  werden  kann,  als  etwas 
vorhanden  ist,  und  dass  Begriffe  nur  entstehen  können,  sobald  als 
Material   dazu   mindestens   ein  Merkmal  vorhanden  ist.    Nun  ist 
diese  Grenze  der  Möglichkeit  des  Abstrahirens  entweder  wirklich 
vorhanden  oder  nicht.    Ist  sie  nicht  vorhanden,  so  bleibt  das  Den- 
ken   ewig  die  gleiche  .  Thätigkeit ,   die    ins  Unendliche   abstrahirt, 
mithin  in  ein  reines  und  ein  nichtreines  schlechterdings  nicht  ge- 
schieden werden  kann;   ist  sie  vorhanden,   so  nimmt  das  Denken 
schliesslich  einmal  das  letzte  Merkmal  des  Begriffs  weg,  und  dann 
hört  mit  der  Möglichkeit  des  weiteren  Abstrahirens  auch  die  des 
weiteren  Denkens  auf,'")  und  es  ist  ein  Widersinn,    wenn  das 
Denken  versucht,  diese  Grenzen  zu  überschreiten  und  jenseit  der- 
selben etwa  als  ein  reines  fortzuoperiren.    Denn  womit?     Da  die 
Begriffe  seine  ausschliesslichen  Objekte  sind,  und  die  Grenze  der 
Möglichkeit  der  Begriffsbildung  verlassen  ist,    so   entbehrt  es  der 
Objekte,  und  eine  Thätigkeit,  die  sich  nicht  bethätigen  kann,  ist 
ein  Unding. 

In  der  That  scheint  Hegel  unter  reinem  Denken  ein  solches 
nicht  (allein)  auf  die  Anschauung,  sondern  (selbst)  auf  die  Begriffe 
verzichtendes  Denken  verstanden  zu  haben.    Wie  soll  man  we- 


'")  Vgl.  was  Ulrici  (lieber  Princip  und  Methode  der  Hegelschen 
Philosophie  S.  81)  über  das  Ilegelsche  ?^ichts  und  (S.  87)  über  das  reine 
Sein  sagt. 


—    8    — 

nigstens  anders  verstehen  die  Sätze:  Das  reine  Sein  macht  den 
Anfang^  weil  es  ...  .  das  unbestimmte  einfache  Unmittelbare 
ist;  dies  Sein  ist  die  reine  Abstraktion  —  f  '  ')  Was  ist  denn 
das  reine,  unbestimmte,  einfache  Unmittelbare  ?  Ist  es  ein  Begriff? 
Wenn  nicht,  was  ist  es  sonst  für  ein  Wesen,  dass  das  Denken 
mit  ihm  operiren  soll  und  kann?  Ist  es  aber  ein  Begriff,  so  ist 
es  ein  solcher  ohne  jegliches  Merkmal  (Bestimmtheit)  d.  h.  ein 
unbegreiflicher  Begriff,  ein  Unbegriff.  *  ^) 

Indem  so  das  reine  Benken  den  natürlichen  Stoff  der  Denk- 
thätigkeit  aufgiebt,  muss  es  sich  einen  andern  zu  seiner  Bethäti- 
gung  suchen;  da  d3LS  frei  für  sich  seiende  Denken  dem  ursprüng- 
lichen Charakter  des  Denkens  als  eines  Ordnens  untreu  wird, 
(denn  ein  frei  für  sich  seiendes  Ordnen  ist  ein  Widerspruch  ,  es 
ist  untrennbar  gebunden  an  ein  zu  Ordnendes),  so  muss  es  einen 
andern  Charakter  erhalten;  es  wird  (bei  Hegel)  ein  schaffendes 
Denken,  oder  besser  kurzweg  ein  Schaffen. ' ')  Hier  schon  wird 
in  den  immanenten  Gang  der  Dialektik  ein  Fremdes  eingeschoben 
—  eingeschoben?  vielmehr  zur  Basis  gemacht;  allein  dies  Fremde 
ist  nicht,  wie  Trendelenburg  will,  in  der  Anschauung  begründet. 
Denn  das  Schafen  kann  weder  mit  der  Anschauung,  noch  mit  der 
Vorstellung,  noch  mit  sonst  irgend  welchem  Stoff  zu  thun  haben, 
da  alles  fälschlich  sogenannte  Schaffen  aus  gegebenem  Stoff  wie- 
derum weiter  nichts  ist  als  ein  Ordnen,  das  reine  Denken  aber 
auf  allen  Stoff  verzichtet.  Vielmehr  schon ,  indem  es  sich  selbst 
voraussetzt,  ist  dem  angeblich  begriffsfreien  Denken  als  immanen- 
ter Charakter  ein  Begriff  octroyirt,  von  dem  wir  nicht  einmal 
wissen,  ob  ja  von  dem  es  nicht  einmal  wahrscheinlich  ist,  dass 
ihm  ein  realer  Vorgang  entspricht. 

Was  demnach  Trendelenburg's  Ausstellungen  in  Hinsicht  auf 
die  Anleihen  Hegel's   bei   der  Anschauung  betrifft,   so   ist  es  zu- 

*M  Reine  Abstraktion  =  reine  Subtraktion,  und  da  Abstraktion  hier 
nicht  als  die  Thätigkeit,  sondern  als  das  Resultat  derselben  anzusehen,  = 
Subtraktion  von  Nichts. 

'^)  Ein  Bcgri/f,  der  fiichls  unter  sich  begreift,  kann  unmöglich  ein 
Begriff  heissen.     Ulrici,  Syst.  d.  Log.  S.  462. 

*')    Vgl.  Erdmann,  Grundr.  d.  Psychologie.   §.  99. 


K 


^K 


4^ 


^ 


—    9    — 

nächst ,  um  einen  Ausdruck  Erdmann's  zu  gebrauchen ,  Silben- 
stecherei,  wenn  er  Hegeln  den  Begriff  der  Abstraktion  desshalb 
nicht  concediren  will,  weil  damit  das  reine  Denken  etwas  voraus- 
setz ,  das  jenseits  seiner  liegt.  Wenn  die  Entwickelung  des  reinen 
Denkens  sich  unter  Menschen  verständlich  machen  will,  so  kann 
sie  nicht  auf  die  einzigen  und  allgemeinsten  Mittel  der  Verständi 
gung  verzichten.  Sie  will  es  auch  gar  nicht  und  behauptet  e^ 
nu=ht.  Seme  Basis,  gleichviel,  was  sie  in  Wirklichkeit  sei  ist 
eben  das,  was  w  i  r  Abstraktion  nennen;  wie  soll  das  reine  Den- 

ßir''".  T  7'T'  """  "  '''''  "'<=''^  der  allgemein  gültigen 
Begnffe  und  Ausdrücke  bedient.  Wenn  es  auch  in  unserem  Ver- 
s^nduiss   nur  das  posterius   zu  diesen  Begriffen  bilden  kann,    so 

nicht  in  Wirklichkeit  das  prius  bilde.     Auch  das  Denken  muss 

um  em  tüchtiger  Meister  zu  werden,   so  mag  auch  das  Denken 

auf  semem  realen  Wege  die  unerlaubtesten  Sprünge  machen   wenn 

es  nur  en  Uch  lernt,  auf  dem  logischen  geradeaus  L  gehen.   Hege 

will  ja  nicht  erweisen,  dass  das  Denken  in  Wirklichkeit,  in  praxi 

ondern^  dass  es  logisch  den  von  ihm  in  der  Dialektik  gezeich- 

n    en  Weg  gehen  müsse.   Um  aber  den  logischen  Weg  del  Den- 

^n  zu  ebnen,  muss  er  ihn  gleichsam  mit  den  Steinen  des  realen 

Weges  pflastern,  auf  denen  das  Denken  allein  vorwärts  zu  kom- 

ins  fnl  T^l  ""  °"  -ständlichen,  aber  auch  nur  von 
uns  („.cht  von  .hm)  aus  der  Wirklichkeit  abdestillirten  Begriff 
bezeichnet,  ist  tadelnswerth ,   sondern  dass  es  diesen  Begriff  ifber 

steckt'™  '"'''"''"  ""'"'  ^'"  '''"  ^''  ^'^'"^  ^^8"ff«  ge- 

^n.  ^"7'"''=^^  Silbenstecherei  liegt  in  dem  Vorwurfe,  ..  könnte 
das   Werden   aus  dem  Sein  u,yl  NicUsein  gar  nicht  werden 
wenn   ny:U   die   Vorstellung  des   Werdens  vorausginge.    Einmai 
namlich  hat  Hegel  gar  nicht  gesagt,  dass  aus  derinheit  des  Sein 

M     .    das   Werden    Allein  hätte  er  auch  gesagt,   das  Werden 
we.de.  was  weiter?  Daraus  folgt  doch  nicht,  dass  die  Dialektik 


—     10    — 

den  Begriff '* )  des  Werdens  anticipire,  sondern  höchstens,  dass  ihr 
ein  anderer  Ausdruck  fehle,  um  uns  den  Vorgang  verständlich  zu 
machen. 

Will  man  so  genau  dem  Gange  des  Gedankens  durch  das 
Feld  der  Sprache  auf  die  Finger  sehen,  so  bemerke  man,  dass 
in  dem  Satze:  aus  dieser  Einheit  wird  das  Werden  das  Wort 
wird  dem  Worte  Werden  nur  sehr  zufällig  voraufgeht;  ursprüng- 
lich heisst  es:  das  Werden  wird;  das  TF^rcZen  ist  also  mindestens 
zugleich  mit  dem  wird,  und  wer  jenes,  der  hat  auch  dieses  ver- 
standen. Dass  freilich  in  Wahrheit  beide  so  nicht  zu  verstehen 
sind,  dass  das  Hegeische  Werden  überhaupt  gar  kein  Begriff  ist, 
wird  unten  zu  erweisen  sein. 

Indess  sind  dies  wahre  Bagatellen  im  Vergleich  damit,  dass 
Trendelenburg  das  Denken  geradezu  vernichtet.  Wenn  Hegel  die 
Grenzen  der  Denkmöglichkeit  zu  hoch  hinaufschiebt,  so  war  es 
am  Orte,  sie  wieder  herunterzuholen;  aber  sie  durften  anderer- 
seits nicht  so  tief  hinabgedrückt  werden,  dass  das  Denken  darunter 
erstickt.  Wo  soll  alle  Philosophie  hinaus,  wenn  das  Denken  nur 
so  weit  Gültigkeit  haben  soll,  als  es  an  die  Anschauung  gebunden 
ist?  Wo  soll  vor  Allem  Trendelenburg's  so  wichtiger  Begriff  der 
Bewegung  hinaus,  und  wie  kann  daraus  gefolgert  werden,  was 
Trendelenburg  folgert,  wenn  darunter  nur  die  angeschaute  Be- 
wegung verstanden  wird?  Als  solche  ist  sie  ein  reiner  Verhältniss- 
begriff. '  ^ )  Für  uns  hier  unten ,  für  die  Thiere  selbst  zugleich, 
dreht  sich  die  Sonne  wirklich  um  die  Erde,  oder  es  ist  wenigstens 
gleichgültig,  ob  sich  diese  um  jene,  oder  jene  um  diese  dreht. 
Wir  sehen  nur  eine  Verschiebung;  ob  einer  von  den  beiden  Polen 
dieses  Verschiebungsverhältuisses  wirklich  feststeht,  ob  beide  sich 


»*)  Denn  als  Begriff  fasst  Hegel  das  Werden,  nicht,  wie  Treudelen- 
burg  will,  als  Vorstellung,  oder  gar  weiter  unten  (Log.  Unt.  I.  S.  38) 
als  Anschauung.     Das  Werden  ist  freilich  keins  von  allen  dreien. 

^5)  Und  diesen  Sinn  will  es  haben,  wenn  AI.  Schmidt  (Beleuchtung 
der  neuen  Schellingschen  Lehre  etc.  S.  117)  Trendelenburg  daran  erinnert, 
dass  die  Bewegung  nicht  eigentlich  gesehen,  sondern  nur  geschlossen  werde, 
ein  Vorwurf,  den  er  sich  in  der  zweiten  Ausgabe  der  Log.  ünt.  zu  Herzen 
genommen  bat  vgl.  1.  S.  152. 


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—   11   — 

bewegen,  ist  für  die  Anschauung  vollständig  gleichgültig.  Erst 
der  aus  dieser  Anschauung  abstrahirte  Begriff  der  Bewe-^ung  ist 
etwas  was  wir  vor  dem  Thiere,  dem  unmündigen  und  Mioten 
voraushaben;  etwas,  das  wir  uns  nicht  vorstellen  können  was 
aber  so  erst  Werth  hat,  indem  es  den  (gleichfalls  nicht  vor'stell- 
baren)  Begriff  der  Ruhe  fordert. 

Aber  noch  vielmehr:  es  muss  behauptet  werden,  dass  das 
Renken  )  nicht  nur  nach  oben  sondern  auch  nach  unten  an  den 
Begriff  gebunden  ist,  d.  h.  also  an  die  Anschauung  gar  nicht  ge- 
bunden sein  kann,")  sobald  man  es  im  engeren  Sinne  fasst, 
d.  h.  dem  Anschauen  und  Vorstellen  gegenüberstellt.  Weder 
Hegel  noch  Trendelenburg  haben  diese  Grenze  gehörig  beachtet; 
Anschauung,  Vorstellung,  Begriff  und  Gedanke  fliessen  bei  Beiden 
tortwahrend  durch  einander,  während  in  Wirklichkeit  jene  Beiden 
nur  die  Basis,    der  Letzte  aber  nur   die  Beziehung   der  Hegriffe 

Eben   deshalb  aber   ist  direkt  von  der  Anschauung  aus  der 
Gedanke  gar  nicht  zu  erreichen,  und  er  darf  nicht  nur  nicht,  wie 
Trendelenburg  will ,  unlösbar  an   die  Anschauung  gebunden  sein, 
sondern  er  kann  nur  Gedanke  werden,  wenn  er  sich  von  ihr  los- 
macht; sein  Verständnis«  ist  nur  von  Begriffen  oder  von  anderen 
Gedanken    aus    zu    erreichen.      Zwischen    diesem   Vogel    und 
diesem   Ei  vermag   die  blosse  Anschauung,  selbst  wenn  sie  da^ 
Legen    des   Eies    beobachtet,    keine   Beziehung   aufzufinden,    die 
unsere    Erkenntniss     bereicherte.     Dies    letztere    geschieht    erst 
durch  die  Beziehung  zwischen  den  Begriffen    Vogel  und  Ei 

Es  ist  daher  der  Vorwurf  (Log.  ünt.  L  S.  45),  dass  das  reine 
bein  des  Denkens  nur  durch  reßektirende  Vergleichung  mü  dem 
vollen  Sem  der  Anschauung  zu  Stande  komme,  nicht  zu  billigen. 
In  der  That  hat  dieser  Vorwurf  zunächst  etwas  sehr  Bestechendes; 
allein  man  sehe  doch  zu:   verglichen  werden  kann  doch  nur  Vor- 

fSvst"i  ^r  ^r!'°.  '■"  '?'"""'  ^''""''  "'•="  '«"«^  «l^o.  welche«  ülrici 

2L  7-S".    ,  K         -^    "'  **■'  '"^"'^    ^*^''^*"'   «*-/"'«/".    «tso  alle 
geultge  Ihahgketl  bezeichnet. 

")    üer    logische    Begriff-  ui    Ontnung.kategorie   und   zwar   Ordnunos 
kategor,e  .«.'  ijo^^v.    Ulrici,  Syst.  d.  Log.  S.  453.  " 


—    12    — 

handenes;  folglich  kann  nichts  durch  Vergleichung  zu  Stande 
kommen  (d.  h.  entstehen),  was  in  dieser  Vergleichung  schon  die 
eine  Seite  bildet;  um  verglichen  zu  werden,  muss  es  doch  schon 
da  sein.  Das  Wahre  ist,  dass  der  Begriff  oder  richtiger  der  Aus- 
druck Vergleichung  nur  ein  Mäntelchen  ist,  das  dem  bereits  gegen 
Hegel  geltend  gemachten  Begriff  d6r  Abstraktion  umgehängt  wird. 
Das  reine  Denken  kommt  nur  durch  reflektirende  Anschauung,,.^ 
heisst  weiter  nichts  als:  es  kommt  durch  Abstraktion  von  dem 
vollen  Sein  der  Anschauung  zu  Stande.  Und  dass  das  reine 
Denken  auf  diese  Abstraktion  einerseits  gar  nicht  verzichten  kann 
noch  will  (um  sich  nämlich  verständlich  zu  machen),  dass  es  aber 
andererseits  derselben  nur  als  seines  realen,  keineswegs  als 
logischen  Stützpunktes  bedarf,  ist  bereits  oben  bemerkt  worden. 

Nicht  als  ob  dadurch  die  Denkbarkeit  des  Hegeischen  reinen 
unmittelbaren  Seins  sollte  dargethan  oder  vertheidigt  oder  auch 
nur  behauptet  werden.  Das  reine  Sein  leidet  vielmehr  an  dem- 
selben Gebrechen,  an  dem  seine  Mutter,  das  reine  Denken  litt, 
und  welches  das  Erbübel  der  ganzen  Dialektik  ist.  Wir  haben 
gesehen,  dass  das  Denken  ohne  Begriffe,  also  ohne  Merkmale 
(Bestimmungen)  sich  nicht  bethätigen,  d.  h.  nicht  leben  kann; 
und  dass  ein  Begriff  ohne  Merkmale  (Bestimmungen)  ein  Unding 
ist;  wie  also  das  reine  Denken  eine  unthätige  Thätigkeit,  so  ist 
das  reine  Sein  ein  unbegreiflicher  Begriff.  Die  Sprache  beweist 
dies  durch  den  Ausdruck  Merkmal.  Merken'^)  ist  soviel  als 
denken.  Ein  Etwas  ohne  Merk-  (d.  h.  Denk-)  Mal  ist  aber  nicht 
merk-  (d.  h.  denk-)  bar.  Das  7^eine  Sein  ist  ein  unerreichbarer 
Gedanke,  weil  es  sich  weder  von  Begriffen  noch  von  Gedanken 
aus  erreichen  lässt,  den  einzigen  Schwungbrettern,  die  allen 
Sprung  im  Reiche  der  Gedanken  ermöglichen. 


1  8> 


')  Marken  =  Grenzen;  und  Abgrenzen  ist  wie  Denken  nichts  als 
ein  Ordnen.  Etwas  bemerken  heisst  dieses  Etwas  in  seiner  Abgrenzung 
gegen  andere  Etwas  inne  werden;  sich  etwas  merken  es  in  der  Er- 
innerung gegen  Anderes  durch  Abgrenzung  bezeichnen;  vgl.  das  seltsame 
Deutsch -Fremdwort  markiren. 


->;  V 


—    13    — 

Von  der  Bewegung. 

Dass  die  Kategorien,  welche  nach  Trendelenburg  bei  Begrün- 
dung der  Einheit  der  realen  und  der  Gedanken-Welt  die  Haupt- 
rolle  spielen,    als   solche  bezeichnet  werden,   die  in  vorzüglichem 
Grade   von  der  Dialektik  erschlichen  worden  seien,    um  ihr  in 
Ihrem  angeblich  immanenten  Fortschritt  weiterzuhelfen,  ist  natür- 
lich  und   selbstverständlich.     Solcher  Hauptkategorien   hat  Tren- 
delenburg drei:    Bewegung,  Anschauung  und  Zweck.     Ehe   man 
zu  der  Prüfung  schreitet,    ob   und   in   wie   weit  Hegel  dieselben 
wirklich  gewissermassen  durch  eine  Hinterthür  in  die  Werkstätte 
des  remen  Gedankens  eingelassen  habe,  um  unbemerkt  mit  ihnen 
zu  openren,   wird  es    angezeigt  sein,  ihre  Auffassung  im  Spiegel 
der  Logischen  Untersuchungen  zu  betrachten. 

Die  Untersuchungen  wollen  eine  doppelte  Bewegung  er- 
kennen: eine  räumliche  und  eine  sogenannte  constructive ,  d  h 
eine  Bewegung  im  Denken.  Gegen  die  Entwickelung  der  räum- 
ichen  Bewegung  und  ihres  Verhältnisses  zu  Raum  und  Zeit  dürfte 
kaum  etwas  geltend  zu  machen  sein:  man  muss  anerkennen,  dass 
die  räumliche  Bewegung  nur  aus  sich  erkannt  werden  kann,  mithin 
angenommen  werden  muss,  dass  sie  aus  sich  selbst  stamme-") 
ebenso,  dass  sie  eine  einfache  Thätigkeit  sei. 

Aber  der  Hauptpunkt,  dass  sie  nämlich  ein  dem  Denken  und 
bein  Gemeinsames  sei,  kann  nimmermehr  so  leichten  Kaufs  zu- 
gestanden werden.  Schon  einzelne  Ausdrücke  Trendelenburg's 
machen  uns  stutzig.  Er  sagt  (1. 142),  die  Bewegung  im  Denken 
müsse  em  Geffenbild  der  Bewegung  in  der  Natur  sein,-')  fährt 
aber  gleich  darauf  fort:  diese  Bewegung  im  Gege^uatz  gegen  die 
äussere  u.  s.  f. 


^ 


)  Immer  vorausgesetzt,  dass  unserer  blos  durch  Seh luss  vermittelten, 
(t.  D.  (also  um)  sogenannten  Anschauung  von  Bewegung  ein  realer  Vorgang 
entspreche  was  keineswegs  erwiesen,  ja  weit  eindringlicher  bestritten  als 
befürwortet  worden  ist.  Denn  die  Beweise  Zeno's  fiir  die  Nichtexistenz 
baben  m.  E.  noch  keine  stichhaltige  Widerlegung  gefunden 

•»)  Vgl   den  Ausdruck  Geye«4i/rf  in  Trendelenburg's  Erläuterungen  zu 
Elem.  log.  Arist.  §.  4.  5.  =»6 


—    14    — 


—    15 


Wie  ist  denn  nun  so  plötzlich  aus  einem  Gegen bild  der 
Bewegung  eine  solche  selbst  geworden?  Später  taucht  der  Aus- 
druck GeyenUld  noch  einmal  auf  (S.  146)  und  wird  behauptet, 
dies  Gegenbild  sei  keine  blosse  Analogie  der  Sprache;  behauptet, 
aber  nicht  erwiesen.  Anderwärts  (S.  39)  heisst  es:  Man  kann 
sagen  and  wird  sagen,  dass  die  Beivegung,  die  die  Naturphilo- 
sophie zu  betrachten  habe,  eine  ganz  andere  Bewegung  sei;  die 
Bewegung  der  äusseren  Natur  mitentscheide  sich  von  der  Be- 
wegung des  innet^en  Gedankens  u,  s.  /. 

Auf  welche  Gründe  stützt  sich  denn  nun  Trendelenburg' s 
constructive  Bewegung?  das  Denken,  sagt  Trendelenburg  (S.  143), 
tritt  in  der  Anschauung  aus  sich  heraus,  und  dies  geschieht 
durch  die  Bewegung.  Wie  sollen  sich  denn  hier  Denken  und 
Anschauung  zu  einander  verhalten?  Ist  die  Anschauung  ein  Theil 
oder  besser:  eine  Bethätigungsform  des  Denkens?  Oder  ist  sie 
vielmehr  nur  ein  Mittel,  ein  dem  Wesen  des  Denkens  Fremdes, 
was  ihm  nur  den  Stoff  zu  seiner  Bethätigung  liefert?  Man  sollte 
meinen:  das  Letztere.  Indess  gleichviel,  denn  wie  es  immer  sei, 
es  ist  nicht  zu  verstehen,  wie  das  Denken  aus  sich  heraustreten 
soll.  Das  Heraustreten  ist  doch  eine  Aktivität,  eine  Thätigkeit. 
In  der  Anschauung  aber  verhalten  wir  uns  rein  passiv.  Wäre 
das  Letztere  nicht  der  Fall,  so  würde  es  uns  möglich  sein,  uns 
gegen  unangenehme  Anschauungen  wie  Misstöne,  Missbildungen, 
üble  Gerüche  u.  s.  w.  zu  verschliessen.  Durch  einen  geistigen 
Akt  sind  wir  dies  notorisch  nicht  im  Stande,  woraus  erhellt,  dass 
die  Anschauung  ohne  ein  willkürliches  Zuthun  von  unserer  Seite 
zu  Stande  kommt,  * ' )  dass  sie  also  zwa?  durch  Bewegung,   nicht 


**)  Was  Fechner  (Psychophysik  I.  S.  165  ff.)  über  die  Möglichkeit  will- 
kürlicher Sinneswahrnehmungeo  (Hallucinationen)  beibringt,  scheint  hier- 
gegen zu  sprechen,  spricht  aber  in  Wahrheit  dafür.  Denn  selbst  ange- 
nommen, dass  diese  Wahrnehmungen  nicht  von  aussen  stammen  (wo  aber 
ist  hier  die  Grenze  von  aussen  und  innen?),  so  haben  sie  doch  mit  der 
Denkthätigkeit  nichts  zu  thun.  Man  vergleiche  noch  die  Beispiele  bei 
Fechner  11.  S.  498  ff.,  namentlich  S.  501:  die  umcUlkür liehen  Wahrneh- 
mungen hatten  durchaus  den  Charakter  von  ettcas  Gesehenem,  nicht  Ge- 
dachten. —  Hagen,  zur  Theorie  d.  Halluciu.  in  Laehr's  Psychiatr.  Zeitschr. 


^4 


aber  durch  eine  von  innen  nach  aussen  stattfindende,  nicht  durch 
Bewegung  des  Denkens  oder  im  Denken,  nicht  durch  constructive, 
vielmehr  rein  durch  räumliche  Bewegung  von  aussen  nach  innen 
vermittelt  wird. 

Die  weiteren  Gründe  Trendelenburg's  sind  nicht  überzeugender: 
Wer  etwa,  so  sagt  er,  das  Kepler  sehe  Gesetz  denkt:  der  Planet 
bewegt  sich  in  einer  elliptischen  Bahn,  —  der  muss  das  in  sich 
thun,  ivas  er  sagt,   dass  der  Planet  thue.    Soll  dieses  muss  im 
Allgemeinen  gelten,   wie  jedes  Muss,  so  ist  der  Begriff  Ruhe  un- 
denkbar;  denn   um   den  Begriff  Ruhe  zu  denken,  muss  ich  thun, 
was  er   sagt,  dass  der  Ruhende  thue,  d.  h.  ich  muss  ruhen  und 
kann  mich  also  nicht  bewegen.    Entweder  also:  das  Denken  kann 
gewisse    Gedanken  nicht   denken,    oder  das  Denken   kann  nicht 
ausschliesslich    in    der   Bewegung   bestehen;    tertium   non    datur. 
Indess   erhellt   auf  das  blosse   Nachdenken,   dass  der  Satz:   der 
Geist  beschreibt  im  Räume  des  Gedankens  jene  Ellipse,  durchaus 
mchts   Allgemeingültiges   enthält.     Der    Geist   kann  dieses   Ver- 
fahren beobachten,  wenn  er  will,  aber  nothwendig  ist  es  nicht  ''') 
Trendelenburg  fährt   fort:    Es  ist  also  im  inneren  Denken  der 
Art  nach  dieselbe  Bewegung,  wie  in  der  äusseren  Natur.    Also^ 
Worauf  aber  stützt  sich  ^\^s  Also?  Hier  bewegt  sich  ein  Planet, 
dort  nur  die   Vorstellung  eines   Planeten;    (wenn   wir  überhaupt 
zugeben,    dass    diese    sich    bewege    oder    gar    bewegen   müsse). 
Begründet  dies  eine  Gleichartigkeit,  ja  eine  Dieselbheit  der  Be- 
wegung?   Doch  wohl  das  Gegentheil;   ebenso  wie  der  Gegensatz 
des  realen  Raumes  zum  Raum  des  Gedayikens,  dem  simulacrum 
des  realen  Raumes.  ^^    Der  nächste  Schluss  ist  doch  wohl  der 
dass,    wie  der  Raum   des   Gedankens   (nur)   ein  simulacrum  des 

Bd.  XXV.  Heft  l.S.  40.  -  Müller,  Phantastische  Gesichtserscheinungen  §.34 
41,  147  u.  s.  w.  o      »      , 

-)  Aehnlich  in  Elem.  log.  Arist.  Adnot.  §.  16  (S.  81  der  sechsten 
Auflage):  tum  demum  mens  humana  se  rem  cognomsse  seiet,  guum,  c,uo 
gemla    est   modo,   eodem   seeum  denuo  genuerit.     Das  mag  allenfalls  von  der 

ersten  erkennenden  Untersuchung,  nicht  aber  von  jedem  einzelnen  nachherigen 
Denken  emes  Begriffes  gelten. 

")  Eine  von  Trendelenburg  I.  S.  144  acceptirte  Bezeichnung  Lambert's. 


—    16    — 

realen  Raumes,  wie  die  Vorstellung  vom  Planeten  (nur)  ein  siipu- 
lacrum  des  Planeten  selbst,  so  auch  die  Bewegung  im  Gedanken 
(nur)  ein  simulacrum  der  räumlichen  Bewegung,  d.  h.  also  nicht 
wirkliche  Bewegung  sei? 

Die  Ellipse  ist  bereits  als  ein  Beispiel  Trendelenburg's  er- 
wähnt worden.  Mit  Vorliebe  wählt  er  seine  Beispiele  aus  der 
Mathematik,  weil  dort  in  der  That  die  Bewegung  benutzt  wird, 
um  die  unvorstellbaren  Begriffe  der  mathematischen  Grössen  der 
Vorstellung  näher  zu  bringen.  ^  * ) 

Auf  diese  uns  Allen  gemeinsame,  rein  pädagogische^^) 
Massregel  soll  sich  nun  die  Nothwendigkeit  der  Gedankenbewegung 
stützen.  Die  innere  Beivegung  soll  (I.  148)  den  Punkt  zur  Linie 
dehnen  u.  s.  w.  Indem  luir  sie  vollziehen^  entsteht  uns  das  Bild 
und  die  Kenntniss  des  Bildes.  Nichts  weniger  als  das;  diese 
vermeintliche  Thätigkeit  ist  nichts  weiter  als  ein  Selbstbetrug, 
vermittels  dessen  dem  Tertianer  über  die  ersten  Schwierigkeiten 
der  mathematischen  Anschauung  fortgeholfen  wird,  von  welchen 
er  erst  bei  reifendem  Verstände  gewahr  wird,  dass  in  Wirklichkeit 
Niemand    jemals    vollständig    darüber    hinwegkann.     Weder   die 


**)  Und  zwar  weder  mit  Recht,  noch,  im  Grunde  genommen,  mit 
Erfolg.  Was  hilft  es  mir,  wenn  ich  dem  Begriff  der  Linie  näher  kommen 
will,  sie  als  durch  Bewegung  eines  Punktes  entstanden  zu  denken,  da 
doch  der  Punkt  der  allervorstellungsfeindlichste  Begriff  der  ganzen  Ma- 
thematik ist?  Vgl.  Aristot.  Top.  VI.  4:  uaAioxa  yx^  io  OTepeov  Lno  t7)v 
aiaOrjöiv  TciiiTet,  to  6 '  izinzooy  fjtaXXov  tt);  YpcifJ.u.7^s,  Ypafxfxy]  os  ar^fieiou  {aocX- 
Xov  xxX.  ^ 

'*)  D.  h.  auf  keinem  realen  Grunde  beruhende;  denn  der  Körper 
ist  eine  (ausgedehnte)  Grösse,  der  Punkt  ein  ausdehnungsloses  Nichts.  Es 
ist  daher  Widersinn,  zu  sagen  und  zu  lehren,  die  Linie  entstehe  aus  der 
Bewegung  des  Punktes  u.  s.  w.  Auf  Trendelenburg's  (I.  267  ff.)  hierfür 
beigebrachte  Gründe  näher  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Giordano 
Bruno  nennt  gar  den  Punkt  die  prima  pars  der  Linie  und  diese  die  prima 
pars  der  Fläche.  Allein  ünräumliches  kann  schlechthin  nicht  ein  Theil 
von  Räumlichem  sein,  und  Letzteres  kann  ebensowenig  aus  Ersterem  ent- 
stehen, es  mag  nun,  wie  Hegel  Encycl.  §.  19  Zus.  2  sagt,  ein  daseinloses 
Dasein  sein  oder  nicht.  Auch  das  daseinlose  (etwa  gedachte)  Räumliche 
ist  den  Bedingungen  alles  Räumlichen  unterworfen. 


; 


—    17    — 

ffame  Geometrie  noch  die  ganze  äusserliche  Welt  entsteht  um 
innerlich  durch  diese  schaffende  Bewegung.  Denn  wo  nähmen 
wir  dann  die  Vorstellungen  von  Erscheinungen  her,  deren  Ent- 
stehung uns  noch  unbekannt  ist,  wie  etwa  das  Nordlicht  oder  die 
Sternschnuppen  oder  die  Cholera?  Und  um  einen  Kirschbaum 
vorzustellen  -  habe  ich  nöthig  an  den  Kirschkern,  an  den  Erd- 
boden, an  Wärme  und  Feuchtigkeit,  an  Okuliren  und  Beschneiden 
an  Aeste,  Zweige,  Blätter,  Blüthen,  Früchte  und  ihre  allmähliche,' 
immerhin  durch  räumliche  Bewegung  mitveranlasste  Entwickelung 
zu  denken? 

In   Summa:    ohne  die  Möglichkeit  ja  Wirklichkeit  der  Be- 
wegung in  der  Welt  des  Gedankens  schlechthin  leugnen  zu  wollen 
steht  soviel  fest:    durch   die  Untersuchungen  Trendelenburg's  ist 
sie  nicht  erwiesen.    Finden  wir  also ,   dass  die  Dialektik  auf  die 
reale  Bewegung   unberechtigt  zurückgeht,    so   soll  der  Einwurf 
gelten.    Aber  die  Beschuldigung  der  Usurpation  einer  Gedanken- 
bewegung  wird  uns  höchstens  veranlassen  müssen,   auch  im  ein- 
zelnen Falle  nachzuweisen,  dass   in  jenem  Bereich  die  Existenz 
der  Bewegung  sich  nicht  darthun  lässt.    Um  nun  zur  Sache  selbst 
zu  kommen,  so  erscheint  in  Trendelenburg's  Einwendungen  die  Be- 
wegung   als    untergeschobene   Anschauung   zuerst  im   üebergang 
vom  Sein-Nichts  zum  Werden.   Inwiefern  Trendelenburg  bei  dieser 
Gelegenheit  auf   Kleinigkeiten   Werth    legt,   ist   bereits   erörtert 
worden.    Allein  sein  Vorwurf  geht  auch  sehr  auf  das  Wesen  der 
Sache  ein,  wenn  er  fragt,  wie  denn  aus  dem  ruhenden  Sein  und 
dem   gleichfalls  ruhenden  Nichts,  aus  der  Einheit  Beider  das  be- 
wegte Werden    herauskomme.     Aber    wie    kann  schlechthin  das 
Werden  ein   bewegtes  genannt  werden,  wo  es  sich  um  die  Ent- 
wickelung eines  Begriffs  aus  Begriffen  handelt.      Freilich,  unsere 
Anschauung  vom  Werden,  das  wenige  Aeusserliche,  was  von  dem 
unerforschbaren  Vorgange  zu   unserer  Kenntniss  gelangt,  ist  an 
die  räumliche  Bewegung  gebunden.    Aber  selbst  in  der  Anschauung 
—  ist  das  Werden  durch  Bewegung  erklärt?  Kann  die  Bewegung 
etwas  Neues  schaffen,  oder  ist  sie  nicht  vielmehr  nur  im  Stande, 
die  Verhältnisse   des  Realen  zu  ändern?    Mit  Recht  sagt  Tren- 
delenburg:    Wenn    wir   durch   Zergliedern   diese    MomenU   im 

2 


-    18    — 


1^    — 


Werden  finden^  so  ist  damit  keineswegs  begriffen^  wie  sie  inein- 
ander sein  können.  Nun  wohl,  aber  wird  das  durch  das  Hinzu- 
treten der  Bewegung  geändert  und  gebessert?  Wir  fragen  nicht 
blos:  Begründet?  sondern:  erklärt  auch  nur  die  Bewegung  dieses 
Ineinandersein?  Weiter  — :  Wer  Stamm  und  Aeste  und  Blätter 
des  Baumes  unterscheidet^  hat  damit  das  Räthsel  noch  nicht  ge- 
löst^ wie  die  Glieder  aus  einem  Gemeinsamen  entstehen  und 
durch  einander  leben.  Gewiss  nicht;  hat  er  es  aber  gelöst, 
wenn  er  den  Begriff  der  Bewegung  hinzuthut?  Freilich  ist  klar, 
dass  die  Säfte  aus  dem  Boden  in  den  Stamm  und  von  dort  in 
die  Extremitäten  durch  Bewegung  gelangen;  aber  wo  kommen 
die  Säfte  her?  und  wie  kommt's,  dass  dieselbe  Bewegung  der- 
selben Säfte  an  jenem  Stamm  Eichen-,  an  diesem  Weidenblätter 
erzeugt?  Man  mag  diese  Säfte,  das  Materielle,  noch  so  weit  zu- 
rückverfolgen, man  wird  immer  an  einen  Punkt  gelangen,  wo  die 
Bewegung  zur  Erklärung  des  Werde  -  Vorgangs  nicht  ausreicht. 
Die  Säfte  selbst  lassen  sich  auf  Bewegung  nicht  zurückführen; 
und  wenn  selbst;  allein,  wie  nun  aus  den  Säften  das  Zellengewebe 
iverde,  und  wie  dazu  die  Bewegung  hinreiche,  das  wird  nimmer- 
mehr darzuthun  sein.  ^')  Steht  es  so  im  concreten  Gebiet  der 
Anschauung,  so  ergiebt  die  Abstraktion  ein  weit  verwickelteres 
Fragengewirr.  Das  reine  Sein  und  das  reine  Nichts  sollen  Begriffe 
sein  und  zwar,  wie  Trendelenburg  sagt,  unanschaubare  Vorstel- 
lungen, wie  wir  gesehen  haben,  unbegreifliche  Begriffe; 
gesetzt  aber  auch,  sie  wären  begreifliche  Begriffe,  welche  Be- 
wegung soll  denn  aus  ihnen  den  neuen  Begriff  des  Werdens  ver- 
mitteln? Doch  wohl  die  constructive,  da  die  räumliche  nur  im 
Reiche  der  Anschauung  gilt.  Nun  wohl;  aber  selbst  ihre  oben 
stark  angezweifelte  Existenz  zugegeben,  wer  vermag  zu  erkennen 
oder  auch  nur  zu  ahnen,  wie  aus  der  Bewegung  zweier  Begriffe 
ein  neuer  entstehe? 

Das  Wahre  ist:  Begriffe  entstehen  überhaupt  nicht,  sie  sind 
da.  Wenn  der  heutige  Tag,  wenn  jener  Baum  aus  der  Einheit 
des  Seins  und  des  Nichts  entsteht  (abgesehen  davon,  ob  es  wahr 


y 


ist);    der  Baum  schlechtliin,   der  Tag  als  Begriff  entstehen  nicht; 
y  sie  sind  da,   längst  ehe  ich  athmen  und  denken,   diesen  Tag  be- 

obachten und  jenen  Baum  pflanzen  konnte,   und  wenn  meine  zur 
Bethätigung    erwachende   Denkkraft    wirklich    erst   heute   dieses, 
morgen  jenes  Merkmal  von  angeschauten  und  danach  vorgestellten 
Bäumen .  abstrahirt   und  so   erst  allmählich  zum  Begriffe  gelangt, 
so    beweist    das    höchstens   die   Nothwendigkeit    des   Bewegungs- 
prozesses für  die  Aneignung  des  ewig  vorhandenen  Begriffes  durch 
das    sterbliche   Individuum,    nicht    aber  für   die   Entstehung   des 
ewigen  Begriffes  selbst.'^)     Wenn  für   mein  Vorstellen   die  ein-, 
zelnen   vergänglichen   Gegenstände  ihrem  Begriffe  in  mir  voraus- 
gehen müssen,  müssen  sie  es  dann  auch  für  den  absoluten  Begriff, 
den    ich  mit   den  Individuen  theile,   die  viele  tausend  Jahre  vor 
mir  gelebt  haben?    Wäre  das,   so  hätten  wir  ja  das  alte  Räthsel 
gelöst,  ob  das  Ei  das  Frühere  sei  oder  die  Henne.    Wir  brauchten 
dann  nur  auf  den  Begriff  des  Eies  und  der  Henne  zurückzugehen 
und  zu  untersuchen,  welcher  in  Ewigkeit  der  Frühere,  d.  h.  welcher 
aus  dem  anderen  entstanden  sei;  aber  da  ergiebt's  sich,  dass  sie 
sich  ebenbürtig  gegenüberstehen,    ob  tausendmal  in  Wirklichkeit 
die   Henne  aus    dem   Ei  geivorden  sei   und   umgekehrt.     Und  so 
verhält    sich's    auch   mit    den    durch   gesteigerte  Abstraction   ge- 
wonnenen, reineren  Begriffen.    Mit  gleichem  Recht  (oder  Unrecht) 
kann    ich    das  Werden    aus   dem  Sein  und   das   Sein   aus   dem 
Werden  folgern;    ist  doch    das   reine   Sein   nichts  weiter  als  ein 
Freiwerden  von  aller  Bestimmtheit. 


»•)  Vgl.  auch  ülrici's  scharfsinnige  Erörterung  Syst.  d.  Log.  S.  272  ff. 


' ')  Erdmann  (Gr.  d.  Log.  33.  1)  und  Fischer  (System  d.  Logik  und 
Metaphysik  §.  74.  1  ff.)  dringen  auch  ausdrücklich  auf  Entfernung  aller 
Zeitvorstellung.  Ulrici  (Princip  u.  Meth.  S.  61  und  Syst.  d.  Log.  S.  456) 
will  von  dieser  Unterscheidung  zwischen  für  uns  und  für  sich  (Aristot. 
Anal.  post.  L  2:  rpos  r^jxas  und  xr;  cp^ast  oder  ^tiXä«;  vgl.  auch  Top.  VL  4 
und  Metaph.  V.  11)  nichts  wissen;  er  nennt  sie  nicht  nur  durchaus  will- 
hürlich  sondern  auch  den  objektiven,  sachlichen  Fortschritt  der  Begriffs- 
entwickelung zerstörend.  Allein  wie  soll  dann  die  objektive  Realität  des 
Begriffes  und  die  Möglichkeit  des  mathematischen  Folgens  zu  Recht 
bestehen?  Trendelenburg  selbst  erklärt  sich  übrigens  mit  jener  Unter- 
scheidung einverstanden  in  den  Erläut.  zu  Eiern,  log,  Arist.  2.  Aufl. 
S.  8,  35  und  sonst. 

2* 


—    20    — 

Ist  somit  das  Werden  dem  Sein  und  Nichts  coordinirt,  ist 
es  gleich  ewig,  gleich  unentstehbar,  so  ist  gar  nicht  abzusehen, 
was  die  Bewegung,  selbst  die  constructive ,  in  diesem  Tempel 
gleicher  feststehender  Säulen  zu  schaffen  hat.  Ist  das  Werden, 
so  braucht  es  sich  um  die  Bewegung  nicht  zu  kümmern,  und  die 
vermeintliche  Krücke,  die  Trendelenburg  damit  der  Dialektik  zu- 
schiebt, könnte,  wenn  sie  sich  derselben  in  Wahrheit  bediente,  sie 
nicht  stützen,  höchstens  zum  Stolpern  bringen. 

Darum  ist  es  keine  blosse  Zufälligkeit  des  Ausdrucks,  wenn 
.Hegel  sagt:  Das  Werden  ist''')  die  Einheit  des  Sein  und  Nichts, 
Ein  Begriff  kann  ja  sehr  wohl  die  Einheit  zweier  oder  mehrerer 
anderen  sein,  wie  Hoffnung  die  Einheit  von  Wunsch  und  Er- 
wartung, oder  im  concreten  Gebiete  Raubvogel  die  Einheit 
von  Ra  üb thi er  und  Vogel.  Der  Fehler  der  dialektischen  Me- 
thode liegt  viel  tiefer.  Wenn  wir  nämlich  bisher  aus  dem  Ge- 
sichtspunkte Hegers  und  Trendelenburg's  Sein,  Nichts  und  Werden 
als  Begriffe  haben  gelten  lassen,  so  muss  es  gesagt  sein,  dass  sie 
in  Wahrheit  gar  keine  Begriffe,  sondern  blos  Beziehungen  von 
Begriffen  sind.***)  Wenn  Erdmann  (Grundr.  d.  Log.  §.31  Anm.) 
sagt,  das  Hegeische  Sein  sei  der  Infinitiv  der  Copula  Ist,  so 
scheint  er  mir  nicht,  wie  Trendelenburg  und  Exner  wollen  (Log. 


«•)  Dazu  sind  zu  vergleichen  Trendelenburg  s  Ausdrücke  wie  F«r«- 
gang,  Uebergang  (S.  39)  u.  a.  m.  Auch  ülrici  (Prineip  u.  s.  w.  S.  51,  56, 
89  U.  sonst)  spricht  von  Uebergehen,  Verschwinden ,  Bewegung,  mit  Hegel- 
schem  Ausdruck,  aber  in  unhegelschem  Sinne. 

»»)  Haym  (a.  a.  0.  S.  107)  nennt  das  Sein  die  einfache  Beziehung, 
Uh-ici  (Prineip  u.  S.  w.  S.  37)  Formen,  formale  Momente  u.  S.  w.  Auch 
möchte  ich  sie  nicht  mit  K.  Fischer  (a.  a.  0.  §.  3  ff.)  reine,  urlheilende 
M.  s.  w.  Begriffe  nennen.  Es  sind  einmal  keine  Begriffe,  denn  was  be- 
greifen sie?  An  Fischer's  eigenem  Beispiel  wird  das  deutlich,  an  der 
Synthese.  Was  begreift  denn  der  vermeintliche  Begriff  der  Synthese  unter 
sich?  Doch  nicht  die  verschiedenen  (d.  h.  nach  Zeit  und  Urheber  ver- 
schiedenen) Akte  der  Synthese  ?  Denn  die  Synthese  ist  offenbar  immer 
eine  und  dieselbe,  das  +  zwischen  a  und  b  drückt  in  Ewigkeit  ein  und  das- 
selbe aus,  gleichviel  was  a  und  b  auch  immer  bedeuten  mögen.  Zum  Be- 
griffenwerden gehört  aber  Verschiedenes,  daher  denn  auch  Fischer's:  sie 
wird  nicht  vorgestellt,  sondern  gedacht. 


—      21      — 

ünt.  I,  117),    dadurch  zwei  Grundgedanken    des  Meisters  ver- 
dorben zu  haben;  vielmehr  hat  er  den  Grundgedanken  damit  offen 
ausgesprochen,   so  offen,   dass   der  Irrthum   darin  klar  zu  Tage 
liegt;    er  hat   gar  keine    Verbesserung   anbringen,    sondern   den 
Meister   nur  verstehen   und  erklären   wollen,   wie   er   einzig  ver- 
standen und  erklärt  werden  kann.  ^ ")    In  Wahrheit  muss  zu  jedem 
Sein  ein  Ist  gehören;    nun  giebt  es  zwei  Ist,   das  eine  gleichbe- 
deutend mit  JSwistirt,   das  zweite    eben  die  Copula.    Ein  Drittes 
vermag  ich  nicht  zu  finden,  auch  Erdmann  erkennt  keines  an  und 
ebenso   scheint  Aristoteles   keines  gekannt   zu   haben,    wenn  er 
unterscheidet:  t6  8'  st'  laitv  7=  pt);  aTcXA;  Xsyo),  dU'  o^^x  et'  Xsü- 
x6c  7i  p,^  Anal.  post.  IL  1.  vgl.  Fischer,  Syst.  d.  Log.  §.  76.  2. 
Es   kann   aber  das  Hegeische  Sein    nicht  den  Infinitiv  zu  jenem 
abgeben ,   weil  die  Existenz  ja  erst  in  der  weiteren  Entwickelung 
der  Kategorien   als  besondere  Form  des  Seins  heraustritt,  mithin 
kann  es  nur  der  Infinitiv  der  Copula  sein. 

Was  daraus  folgt,  ist  schon  von  Trendelenburg  angedeutet, 
freilich  nur  hypothetisch,  weil  er  den  bedingenden  Grundgedanken 
Erdmann's  (d.  h.  also  Hegel's)  nicht  anerkennt;  es  folgt  nämlich 
einmal,  dass  die  (von  Hegel  behauptete)  Voraussetzung slosigkeit 
(des  Seins)  au/gehoben  ist,  da  eine  Copula  nicht  denkbar  ist 
ohne  Copulirtes.  Das  will  sagen:  die  Copula  ist  nur  ein  Aus- 
druck für  eine  Beziehung,  die  Beziehung  ist  aber  nur  denkbar  zu- 
gleich mit  dem  Bezogenen,  zwischen  dem  sie  obwaltet,  nur  an  ihm, 
nur  durch  es.'«)  Dieses  Bezogene  ist  also  die  Bestimmtheit  der 
Beziehung;  fällt  nun,  wie  Hegel  veriangt,  jede  Bestimmtheit  fort, 
so  ist  die  Beziehung  undenkbar ,  d.  h.  Sein  u.  s,  w.  sind  blosse 
Worte,  aus  dem  Zusammenhange  der  Sprache  herausgerissen,  die 


»»)  AI.  Schmidt  (Beleuchtung  u.  s.  w.  S.  124)  erklärt  das  Sein  als 
den  Begriff  des  Daseins.  Allein  das  Dasein,  wenn  es  überhaupt  ein  Begriff 
wäre,  hätte  als  solcher  selbst  nur  noch  ein  Moment;  trennt  man  dieses  ab, 
so  ist  nichts  mehr  zu  gewinnen,  und  das  Sein  ist  so  wenig  ein  Begriff 
als  das  Da. 

)  Fischer  a.  a.  0.  §.  77.  3 :  Unahhängig  vom  Denken  giebt  es  kein 
Sein  als  Begriff  Kirchmann,  Eri.  zu  Spinoza's  Etb.  (Philos.  Bibl.  V)  S.  9 
Anm*.    11:   Die  Beziehung  an  sich  ist  ohne  Inhalt  u.  s.  w. 


—    22 


—    23    — 


ausser  diesem  Zusammenhange  gar  nicht  denkbar,  gar  nicht  ver- 
ständlich sind.  ^  * )  Aber  gesetzt  auch,  sie  wären  denkbar,  so  folgt 
zweitens,  dass  dieser  Begriff  des  Seins  für  die  absolute  Unmit- 
telbarkeit der  Erfahrungswelt j  ivelche  auf  ihm  7nthen  soll,  gaiiz 
bedeutungslos  ist.  Mit  andern  Worten:  Aus  einer  blossen  Be- 
ziehung zwischen  Begriffen  können  ebensowenig  neue  Begriffe  als 
aus  der  Beziehung  etwa  zwischen  zwei  Weltkörpern  andere  Welt- 
körper hervorgehen.  Nur  wenn  man  diese  Beziehungsformen  mit 
den  Begriffen  des  Seienden  verivechselt,  kann  man  meinen,  damit 
in  der  Erkenntniss  der  Zwinge  vorzuschreiten  (Kirchmann  a.  oben 
angef.  0.).  Hier  ist  der  Grundmangel,  der  sich  durch  die  ganze 
Dialektik  hindurchzieht,  wie  sich  im  Verlauf  der  Untersuchung 
darthun  wird. 

Denn  schon  am  Nichts  und  am  Werden  lässt  sich  dieselbe 
Operation  ausführen,'**)  die  soeben  am  Sein  vorgenommen  wurde. 
Da  ist  freilich  zunächst  daran  zu  erinnern,  dass  der  Ausdruck 
Nichts  eine  sprachliche  Ungenauigkeit  involvirt,  dass  Hegel  dafür 
hätte  Nicht  oder  Nichtsein  sagen  müssen.  ''*)  Dann  ist  aber  das 
Nichtsein  der  Infinitiv  zu  der  negirten  Copula  Ist  nicht,  oder 
das  Nicht  ist  schlechthin  die  Verneinung  der  in  der  Copula  lie- 
genden Beziehung.  In  gleicher  Weise  ist  das  Werden  dann  keines- 
wegs gleichbedeutend  mit  Entstehen,  sondern  es  ist  der  Infinitiv 
des  Hilfszeitworts  Wird.    Man  könnte  zwar  hier  noch  von  einem 


/ 


*')  Erdmann  nennt  sie  oft  das  Unwahre  (Grundr.  d.  Log.  §.  26.  27. 
32.  32  Aum.  4  u.  sonst.)  und  sagt,  Seyn  sei  seines  abstrakten  Charakters 
wegen  schwer,  ja  wenn  man  will,  unmöglich  zu  fassen  und  in  begreifen.  Ebend. 
§.  29.  In  der  That  wird  damit  die  Schwierigkeit  der  Logik  (Erdmann 
ebend.  §.  8.  Hegel,  Encycl.  §.  19.  §.  24  Zus.  2  u.  sonst)  zur  Unmöglichkeit, 
soweit  das  Denken  blosser  Beziehungen  gefordert  wird. 

*  *)  Ulrici  (Princip  u.  s.  w.  S.  37  ff.)  hat  sie  ausgeführt.  Wenn  dort 
der  Gegensatz  als  der  zwischen  formalem  und  realem  Moment  formulirt 
wird,  so  ist  das  nur  ein  Unterschied  des  Namens  nicht  der  Sache. 

**)  Erdmann,  Grundr.  d.  Log.  §.  30:    \Yir  nennen  diese,  die  reine  Ver- 
neinung Nichts,   Mchtsein  oder  vielleicht   besser  Nicht.    Vgl.   Log.  Unters.  1. 
S.  45:   dass    dabei    das  logische  Nicht  {das   reine  Sein   ist   nicht)    zu  einem 
gleichsam  realen  und  als  Etwas  gesetzten  und  angeschauten  Nichts  hypostasirt 
wird  u.  s.  w.    Vgl.  Erdmann  ebend.  Anm.  2.     Ulrici,  Syst.  d.  Log.  S.»273. 


dritten  Werden  sprechen,  wie  etwa  in  dem  Satze:  die  Kirsche 
wird  roth.  Allein  auch  wenn  man  dieses  Werden  als  ein  Drittes 
gegen  das  Hilfsverb  und  das  Entstehen"*^)  abgrenzt,  ist  es 
deswegen  ein  selbständiger  Begriff?  drückt  es  mehr  aus  als  eine 
Beziehung  zwischen  der  Kirsche  und  dem  Roth,  die  immerhin  der 
Einheit  der  anderen  Beziehungen  zwischen  Kirsche  und  Rothsein 
einerseits,  Nichtrothsein  andererseits  gleich  sein  mag,  gleichwohl 
aber  weder  ohne  die  Bezogenen  denkbar  ist,  noch  irgend  welchen 
realen  Begriff  aus  sich  selbst  heraus  entwickeln  kann? 

Man  muss  der  Möglichkeit  Rechnung  tragen,  dass  Erdmann 
und  die  obigen  an  seine  Ansicht  sich  anschliessenden  Erörterungen 
im  Irrthum  sind;  dass  sie,  wenn  sie  ein  drittes  Sein  ausser  den 
genannten  nicht  finden,  vielleicht  der  Höhe  des  Hegeischen  Ge- 
dankenfluges nicht  folgen  können.'')  Stellt  man  sich  aber  auf 
ihre  Seite,  so  führt  die  Betrachtung  des  Hegeischen  Nichts  auf 
einen  zweiten  Mangel  der  dialektischen  Methode,  den  nämlich, 
dass  der  treibende  Gedanke  des  Widerspruchs  lediglich  aus  der 
Vermengung  der  Beziehu^igen  auf  Verschiedenes  entspriesst;  wenn 
ich  sage:  dieser  Baum  ist  eine  Eiche  und  nicht  eine  Weide,  so 
ist  er  zwar  zugleich  und  ist  nicht;  aber  das  involvirt  gar  keinen 
Widerspruch.  Erst  wenn  die  Beziehung  zu  einem  und  demselben 
Begriff  zugleich  wäre  und  nicht  wäre  (wie  etwa:  dieser  Baum  ist 
eine  Eiche  und  ist  nicht  eine  Eiche),  so  läge  ein  Widerspruch 
vor,  der  den  Gedanken  zu  seiner  Beseitigung  antriebe;  aber  Hegel 
destillirt  aus  den  identischen  (d.  h.  zugleich  vorhandenen)  Bezie- 
hungen des  Eiche-Seins  und  des  Nicht- Weide-Seins  die  vermeint- 


**)  Indem  mau  z.  B.  im  Griechischen  unser  Hilfsverb  als  in  den 
Conjugationsformen  liegend  betrachtet  und  nun  dem  yr/vEa^ai  das  xivelar^ai 
gegenüberstellt.  Erdm.  Gr.  d.  Log.  §.  32 ,  2  nennt  das  Werden  eigentlich 
den  ersten  Begriff. 

*•)  Indess,  Hegel  selbst  spricht  so  offenherzig  von  Beziehungen  und 
confundirt  sie  so  harmlos  mit  den  Begriffen,  dass  man  Erdmann  zustimmen 
muss,  wenn  man  nur  überhaupt  gewillt  ist,  Beziehung  und  Begriff  aus 
einander  zu  halten.  Vgl.  Encycl.  95  als  Beziehung  des  Negativen  auf  sich 
selbst   t$<    das  Für  sichseiende  oder  das  Eins  das  in  sich  Unterschiedslose;  u. 

soust. 


—    24    — 

liehen  Begriffe  des  Seins  und  Nichtseins,  die  als  solche  an  sich, 
wenn  sie  denkbar  wären,  in  der  That  einen  Widerspruch  invol- 
virten,  und  zwar  einen  Widerspruch,  der  trotz  allen  Antriebes 
nimmermehr  zum  Ausgleich  käme.  Später  übrigens  (I.  S.  60) 
erkennt  Trendelenburg  diese  Natur  der  Beziehung  und  macht  sie 
gegen  Hegel  geltend,  beim  Begriff  der  Unendlichkeit,  was  unten 
zur  Sprache  kommen  wird. 

Es  wird  noch  die  Frage  sein,  ob  man  der  Dialektik  durch- 
weg diese  Verwechselung  der  Beziehungen  und  Begriffe  vorwerfen 
kann,  oder  ob  sie   an  irgend  einer  Stelle  aus  der  Welt  der  Be- 
ziehungen  in    die    der  Begriffe  übergehe.     In    der  That  ist  das 
Letztere    der  Fall. ' ')    Wesen    und   Existenz  z.  B.   sind    keine 
blossen  Beziehungen  mehr.    Gleichwohl  wird  dann  wieder  aus  der 
Begriffswelt  in  die  Sphäre  der  Beziehungen  umgeschlagen.   Hierin 
scheint  mir  der  fortwährende  Kampf  zwischen  äusserstem  Spiri- 
twdmnus  und  kräftigster  Bealitätstendenz,  zwischen  eingebildeter, 
errauonmrter,   metaphysisclwr  und  anschaubarer  und  lebendiger 
Realität,   von  denen  Haym-)   spricht,   zu  liegen,  nicht  in  dem 
Wesensgegensatz  zwischen  dem  Begriff  mid  dem  realistisch  Bealen. 
Wenn  Haym  (a.  a.  O.  S.  307)  beginnt:    Wir  stossen  nach  ein- 
einander  auf  (das  Sein)  das  Basein,   die  Existenz,  die  Wirk- 
lichkeit, die  Substanzialität,  so  konnte  er,  statt  fortzufahren :  und 
diesenmich  der  ReaUtät  schnackenden  Kategorien  folgen  dann 

nnl.,-  O  ^"*'""'^  ^^'-  ^-  ^°^-  ^-  ^^   ''"'''ä't  ausdrücklich,   dass  man 

dl  !  J  ;'  "7"t  '"""  '"  '*■■''*'""■  ""^^  ""«J  <J«ss  »a-  ^iO  damit 
dem  anstotehschen  Begriffe  der  Kategorien   wieder  nähere;    aber  da  ist 

sTch  '"/''f^tr'  ,t''  *"''""'"''  ^'*'  "'^  '^"^  "'"ander  abzuleiten  ver- 
71  h!  ,  ["' •  ^""'''  "•  '•  ''■  ^-  ^^)  '""»"'•  -lass  die  Hegeische  Me- 
11    ,  .  u^     nnrnnermehr  zu  einem  realen,  sondern  nur  zu  einem  for- 

rfr  K  K  "'"""  ^''"*'  '°'''"'°^"^''  *«"  '^^  fokaler  Denkbestim- 
mungen  verhelfe. 

••)  Hegel  u.  s.  Z.  S.  303.  306.  Anderwärts  (S.  96)  heisst  es:  SelUi 
das  schärfste  .4«ge  is,  jetzt  kaum  i«  S,„„de,  i«  der  Luft  des  reinen  Gedankens 
«och  irgend  e,n  lebendiges  Stäubchen  .„  erblicken  und  jetzt  Heder  ist  de,- 
Geye  W  ,«  Stande,  durch  die  bunten,  dicht  hingelagerten  Gestalten 
einen  Weg  zu  finden. 


,  M 


-    25    — 

jedesmal    andere,  welche   in  das  rein.  Element  des  Gedankens 
j  zuruckUUn     auch  sagen:    diesen   Kategorien  des   Realen  folgen 

jedesmal  blosse  Beziehungen,  die  mit  jenen  schlechterdings  kle 
Entwicklungsreihe  bilden  können.  ^ 

Was  nun  Trendelenburg's  Be,,egung  anbetrifft,  so  lässt  sich 
das  oben  gegen  sie  geltend  Gemachte  auf  Schritt  und  Tritt  bei 
alen  Vorwürfen  wiederholen,  und  es  ist  unnöthig,  dieselbe  Mani- 
pulation in  Hinsicht  auf  die  continuirliche  und  die  discrete  Grösse 
U.S.W.  vorzunehmen;  wenn  die  Sprache  ihren  Beziehungen  offen- 
iZt   Z  IT     r^'  f^  ^-»-^  -^  ^-  S-oegung  zum  Grunde 

a!l  H      T%  ""'''  ^'''  """  '^'^^«'^«"  Anschauungen 

auch  den  Begriffen    zum  Grunde   liegen.     Die  Sprache   als   etwas 

Concretes   muss   sich   auf  das  Concrete   berufen,   selbst  wenn  sie 
das  Abstrakte  veranschaulichen  will,  denn  sie  kann  sich  mit  dem 
Abstrakten  nicht  aus  einander  setzen.  Ist  doch  die  Sprache  bei  allem 
Reichthum  an  Anschauung  und  Entwickelung  arm  an  Gewähr  für 
die    wirkliche  Vermittelung  des    Gefühlten  und    Gedachten;    wir 
sprechen  wohl  von  Liebe   und  Glauben,    von  Bewegung  und  Be- 
ziehung,  aber   wer   bürgt   uns   dafür,   dass  wir  mit  diesen  Aus- 
drucken  in   der  Seele  des  Anderen  dasselbe  wachrufen,    was  wir 
selber  dabei  fühlen  und  denken?    Die  Unfruchtbarkeit  der  Bewe- 
gung für  irgend  welches  Schaffen  und  Erzeugen  beruht  im  Grunde 
genommen  darin,  dass  die  Bewegung,  wenn  wir  nämlich  die  ün- 
begrenztheit  des  Raumes  und  der  Zeit  annehmen,  selbst  zu  einer 
blossen  Beziehung  wird.    Erscheint  es  in   der  beschränkten  An- 
schauung anders,  so  Hegt  dies  eben  nur  daran,  dass  wir  vermöge 
dieser  Beschränkung  nur  begrenzte  Raum-  und  Zeitabschnitte  vor- 
zustellen vermögen.     Vom   bestimmten,  festen  Pnnkt  im  Räume 
erscheint  allerdings   die  Bewegung  dem  Auge  als  ein  realer  Vor- 
gang,  und   wenn  wir   sagen,   da^s  sich   die  Erde  um  die   Sonne 
drehe    so  denken  wir  uns  den  Mittelpunkt  der  Sonne  als  ruhend 
und  bestimmt.     Allein  im  unbegrenzten   Räume  darf  ein  fester 
Punkt  nicht  angenommen  werden,  weil  ein  solcher  ja  selbst  Grenze 
ist ;  ohne  diesen  Punkt  ist  aber  die  Bewegung  ein  reines  Verschie- 
bungsverhältniss,  eine  blosse  örtliche  Beziehung,  die  weder  ange- 
schaut,  noch    für  sich  gedacht  werden  kann.     Eine  wenn  auch 


—    26    — 

schwache  Analogie  finden  wir  in  jener  Sphäre  irdischer  Anschauung, 
welche  die  meiste  Verwandtschaft  mit  dem  Unbegrenzten  hat,  auf  dem 
offnen  Meere.  Begegnen  sich  dort  zwei  Schiffe,  so  kommen  sie 
wohl  an  einander  vorüber,  aber  wer  kann  sagen,  welches  von  bei- 
den sich  nun  bewege,  oder  ob  beide  sich  bewegen,  wenn  er  nicht 
auf  die  Oberfläche  des  Meeres  schaut,  oder  sonst  einen  Halte- 
punkt für  seine  Blicke  findet.  Ein  Gleiches  ist  es  mit  der  Zeit. 
Wenn  wir  sagen:  Nach  und  Vor,  und  uns  ohne  dies  die  Er- 
scheinungen nicht  klar  machen  können,  so  liegt  das  an  unsrer 
menschlichen  Beschränktheit,  die  keine  Ewigkeit  zu  erfassen  ver- 
mag. Denn  was  heisst  Nach  und  Vor  anders,  als:  Näher  an  die- 
ser und  Näher  an  jener  Grenze,  zwischen  denen  unser  endlicher, 
gleichsam  aus  der  Ewigkeit  herausgeschnittener  Zeitraum  ruht? 
Für  die  Ewigkeit  giebt  es  kein  Nach  und  Vor  ;^")  nur  wir  müs- 
sen die  Grenzen,  die  wir  in  die  Zeit  einschneiden,  so  ordnen  und 
benennen.  * " ) 

Um  dieser  Ansicht  gegen  die  Trendelenburg's  Geltung  zu 
verschaffen,  bedürfte  es  freilich  eines  genaueren  Eingehens,  als  es 
sich  mit  unserer  Aufgabe  verträgt,  zu  welcher  wir  nach  dieser 
kurzen  Abschweifung  zurückkehren. 

Ton  der  Anschauung. 

Soweit  bisher  von  der  Anschauung  in  ihrem  Verhältniss  zum 
Denken  die  Rede  gewesen,  ist  stillschweigend  angenommen  wor- 


3«)  Vgl.  Spinoza,  Eth.  I.  Prep.  33  Schol.  2. 

*")  Dem  analog  lässt  sich  auch  behaupten,  dass  die  sogenannten  drei 
Dimensionen  des  Raumes  theils  auf  tellurischen  Beziehungen  theils  auf 
willkürlicher  Classification  bemhcn.  Denkt  man  sich  die  drei  Dimensionen 
durch  drei  in  einem  Punkte  sich  schneidende  Gerade  dargestellt,  so  ist  gar 
nicht  abzusehen,  warum  nicht  jede  andere  durch  diesen  Punkt  gezogene 
Gerade  gleichfalls  den  Charakter  einer  selbständigen  Dimension  sollte  bean- 
spruchen können.  Offenbar  auch  können  die  regelmässigen  Körper  nur 
bis  zum  Würfel  u.  s.  w.  durch  die  drei  Dimensionen  erschöpfend  charak- 
terisirt  werden  ;  bei  den  Figuren  des  hexagonalen  Kristallsystems,  des  mo- 
uoklinischen  gar  u.  a.  m.  reichen  die  drei  Dimensionen  für  die  Inhaltsan- 
gabe offenbar  nicht  aus. 


j 


^ 


-N 


,  *.i 


—     27     — 

den ,  dass  das  Denken  die  Anschauung  zu  seiner  Voraussetzung 
habe.  Es  hat  sich  unter  diesem  Gesichtspunkte  bislang  nur  darum 
gehandelt,  jedem  Gliede  in  der  Entwickelungsreihe:  Anschauung 
-  Vorstellung  -  Begriff  (Kategorie  u.  s.  w.)  seinen  ohne  Weite- 
res als  den  rechten  angenommenen  Platz  genau  abzugrenzen 
Vielleicht  aber  ist  der  der  Anschauung  oben  zugewiesene  Platz 
überhaupt  gar  nicht  der  rechte;  vielleicht  muss  sie  mit  dem  Ge 
danken  (Begriff  und  Kategorie)  die  Rollen  oder  doch  die  Staffeln 
der  logischen  Leiter  tauschen.  Kuno  Fischer  wenigstens  behauptet 
es,  und  es  gilt  zuzusehen,  ob  er  Recht  behält. 

Nach  Fischer-)  nämlich   wird  die  Anschauung  durch  das 
Denken  erzeugt,  sie  ist  ohne  Kategorien,  ohne  Begriffe  nicht  mög- 
lich.   Beide  sind  in  der  Anschauung  enthalten,  da  sie  sonst  das 
analysirende   Denken    nicht    darin    finden   könnte.      Sie  sind  die 
Theile,   die  Einzelvorstellting  ist  das  Ganze.     Müssen  nicht,  sagt 
Fischer  (a.  a.  0.  S.  66.  5),  diese  Tlu^üe  in  dem  Ganzen  enthalten 
nicht  Mos  entlialUn,  sondern  dergestalt  in  ihm  verbunden  und 
verknüpft  sein,  dass  sie  ein  Ganzes,  eine  in  sich  zusammenluin- 
gende    Vorstellung  bilden  f     Ohne   diese    Verknüpfung  giebt    es 
kerne  MmelvorsUllung ,  keine  Anscluxuung ;  also  foi^dert  die  An- 
schauung selbst  ah  ihre  Bedingung  eine  logische   Verknüpf  imq 
die  ohne  Begriffe  nicht  möglich  ist. 

Sind   die  Begriffe  -    die  Kategorien   einstweilen  bei  Seite 

")  Fischer  a.  a.  0.  §.  64.  3  bis  66.  5.    Hier  dürfte  der  Hauptcoin- 
cdenzpunkt  von   Fischer's  Lehre  mit  derjenige«  Kaufs  zu  suchen  sein 
Indessen   ist  der  Unterschied  immer  „och  gross  genug.    Kant  sagt  nicht 
nur  nicht,  dass  die  Anschauung  das  Schouvorhandensein  der  Begriffe  for- 
dere, sondern  er  behauptet  sogar,  dass  die  am  dem  inncrn  (hM  des  reinen 
Amchauens   und  Denkens   herstammende  gewisse   Form    bei  Gelegenheit 
der  Materie  zur  Erkenntniss  erst  in  Ausbildung  gebracht  werde  und  (dann 
erst)  Begriffe  hervorbringe  (Krit.  d.  r.  Vern.  (Ausg.  v.  Kirchm.)  S.  130;.  Später 
ausdrücklich:    Die  Anschauung    bedarf  der  Funktion  des   Denkens  in  keiner 
We.se  (S.  133).     Die   Vorslellmig,  die  t«r  allem  Denken  gegeben  sein  kam, 
ketsst  Ansehauung  (S.  139)  u.  s.  w.    Nur  ein  scheinbarer  Widerspruch  liegt 
m  dem  Satze:   Begri/fe  von   Gegenständen  werden  aller  Erfakrungskennlnis^ 
zu  Orunde   liege»  (S.  134).     Auch   die  Einheit  der  Apperception  ist  von 
fischer's  logischer  Verknüpfung  streng  verschieden. 


—    28    — 

gelassen  —  wirklich  die  Theile  der  Einzelvorstellungen ,  oder  ist 
es  vielleicht  umgekehrt?  Damit  wäre  die  alte  Streitfrage  zwischen 
Realismus  und  Nominalismus  des  Mittelalters  in  etwas  veränder- 
tem Gewände  wieder  in  die  Arena  gerufen.  Hier  wie  dort  lassen 
sich  beide  Ansichten  durch  scheinbare  Gründe  verfechten;  allein 
bei  näherer  Betrachtung  erkennt  man  doch,  dass  die  Theile  der 
Einzelvorstellungen  nicht  Begriffe,  sondern  Merkmale  * '')  sind. 
Wären  nämlich  Begriffe  gleichfalls  die  Theile  der  Einzelvorstel- 
lungen, so  müsste  ja  wohl  Begriff  und  Merkmal  gleichbedeu- 
tend sein.  Dies  angenommen,  so  ergiebt  sich  von  selbst,  dass  die 
Begriffe  (d.  h.  also  die  Merkmale)  erst  mit  und  in  der  Anschauung 
gegeben  sind,  also  nicht  vor  ihr  vorhanden  sein  und  bei  ihrer 
Bildung  mitwirken  können. 

Ferner  ist  es  nicht  zu  billigen,  dass  das  analysirende  Denken 
die  Begriffe  in  der  Anschauung  finden  soll.  Niemals  kann  von 
einem  Begriffsfunde,  stets  nur  von  Begriffsbildung  die  Rede  sein. 
Das  analysirende  (trennende)  Denken  findet  die  Merkmale,  aber 
wenn  es  beim  Analysiren  bliebe,  so  würde  der  Verstand  auch 
nicht  um  einen  Schritt  vom  Flecke  kommen.  Der  Begriff  ent- 
steht erst  durch  das  verbindende  Denken;  wie  denn  mit  der  Ar- 
beit des  Steinbrechers  erst  die  Hälfte  zur  Fertigstellung  des  Hauses 
gethan  ist ;  eben  deshalb  sind  aber  auch  die  Häuser  nicht  die  Theile 
der  Steinbrüche,  obzwar  sie  aus  deren  Theilen  bestehen.  Wenn 
dieses  Gleichniss  hinkt,  so  hinkt  es  ra.  E.  nicht  mehr  als  andere 
Gleichnisse  eben  auch. 

Hierin  ist  auch  der  Grund  dafür  zu  suchen,  dass  ich  von  einer 
einzelnen  Vorstellung  aus  schlechthin  zu  keinem  Begriffe  gelangen 
kann,  welches  doch  vermittelst  einer  einfachen  Theilung  möglich 
sein  müsste,  wenn  Begriff  und  Vorstellung  wirklich  in  dem  von 
Fischer  behaupteten  Verhältniss  ständen,  und  dass,  selbst  die 
Möglichkeit  einer  solchen  Begriffsbildung  zugestanden,  die  endlose 
Manchfaltigkeit   der  Natur  und   der  Erscheinungswelt  auf  diesem 


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4X> 


»)  Sit  veoia  verbo.  Genau  gesprocheu  müsste  von  den  den  Merkmalen 
entsprechenden  Einzelvorstellungen  die  Rede  sein.  Ueberweg,  Syst.  d.  Log. 
§.  45. 


—     29     — 

Wege  ebenso  oft  zur  falschen  wie  zur  richtigen  Begriffsbildung  füh- 
ren würde.  Denn  die  Natur  pflegt  sich  an  unsere  Begriffe  als 
Gesetze  nicht  zu  bindern  Daher  denn  in  so  mancher  wissenschaft- 
lichen Disciplin  eine  nach  jener  Methode  auf  eine  einzelne  An- 
schauung basirte  Begriffsbildung  soviel  Rauch  und  Dunst  hinter- 
lassen, ja  die  Wahrheit  oft  auf  Jahrhunderte  verdunkelt  hat.-»^) 

Wir  treten  der  Frage  von  der  anderen  Seite  näher:  auch  die 
Kategorien  sollen  im  Verhältniss  zur  Anschauung  das  Frühere, 
das  Miterzeugende  sein.  Man  muss  ohne  Weiteres  zugeben,  dasi 
die  Kategorien  Bestandtheile  der  Anschauungen  sind.  Muss  nun 
aber  auf  die  Frage,  wie  die  Kategorien  in  die  Anschauung  kom- 
men, durchaus  mit  Fischer  geantwortet  werden:  sie  sind  darin, 
folglich  hat  sie  das  Denken  hineingethan ;  das  Denken  erzeugt 
die  Anschauung,  darum  kann  es  sich  aus  der  Anschauung  auch 
wiedererzeugen  ? 

Oder  kann  man  mit  demselben  Recht  antworten:  sie  sind 
darin,  aber  wer  weiss  woher?  Sie  sind  darin  wie  die  Merkmale  eben 
auch  (soll  heissen:  die  den  Merkmalen  entsprechenden  Einzelvor- 
stellungen); und  die  Merkmale  hat  doch  wohl  das  Denken  nicht 
hinzugethan.  Die  Anschauung  besteht  aus  Merkmalen  und  Kate- 
gorien; das  Denken  schält  beide  heraus,  um  sie  zu  besitzen,  thut 
sie  aber  nicht  hinein,  um  sie  wieder  daraus  zu  erzeugen.  Denn 
was  hätte  dieser  Zirkelprocess  auch  für  einen  Zweck  ?  Doch  nicht 
den,  ihre  Gültigkeit  zu  prüfen?  Denn  wie  ich  sie  hineinmische, 
ziehe  ich  sie  wieder  heraus,  und  die  Anschauung,  die  ich  mit  ihrer 
Hülfe  erst  erzeuge,  kann  kein  massgebender  Prüfstein  ihres 
Werthes  sein. 

Drei  Gesichtspunkte  sind  möglich,  wenn  man  das  Verhältniss 
zwischen  den  Beziehungen  der  Wirklichkeit  und  denjenigen  der 
Gedankenwelt  betrachtet;  die  Beziehungen  zwischen  den  Vorstel- 
lungen U.S.W,  sind  da;  entweder  kann  man  nun,  wie  Hume  will, 
diese  Beziehungen  für  etwas  Subjektives  halten,  dem  freilich  eine 

*3)  Ebenso  charakteristische  als  seltsame  Beispielsammlungen  findet 
man  in  Mehliss,  Ueber  Virilescenz  und  Rejuvenescenz  thierischer  Körper. 
Leipzig  1838.  S.  29  und  in  Willdungen ,  Litterarische  Hauptjagd  auf  ge- 
hörnte Hasen  (Waidmanns  Feierabende,   Bd.  lü.    Marburg  1817)  S.  21  ff. 


-     30    — 

Erscheinung  in  der  Objektivitcät  mit  einer  wunderbaren  (oder  besser 
wunderlichen?)  Regelmässigkeit  entspricht,  d.  h.  also  Causalität 
finden,  wo  in  der  Wirklichkeit  nur  efti  stets  wiederkehrendes 
Nacheinander  ist;  eine  Art  von  Occasionalismus,  der  bei  Hume 
befremdet.  Kant  gab,  um  die  Objectivität  dieser  Kategorie  zu 
retten,  die  Wirklichkeit  des  Wahrgenommenen  preis  und  machte 
die  ganze  Welt  zur  nur  subjektiven  Erscheinung.  Dies  ist  der 
zweite  Standpunkt,  und  nur  aus  ihm  ist  mutatis  mutandis 
die  Anschauung  Fischer*s  zu  verstehen.  Die  dritte  Möglichkeit 
endlich  ist,  die  Beziehungen  in  der  Welt  der  Vorstellung  in  der- 
selben Weise  für  Erscheinungen  von  Beziehungen  in  der  Wirk- 
lichkeit (d.  h.  also  von  wirklichen  Beziehungen)  zu  halten,  wie 
die  Anschauungen  eingestandenermassen  Erscheinungen  (die  Be- 
griffe Abgüsse)  des  Wirklichen  sind. '*^) 

Unter  dem  letzteren  Gesichtspunkt  verschwindet  auch  das 
Problem  der  Causalität,  das  unter  den  beiden  anderen  nicht  so- 
wohl beseitigt  als  vielmehr  durch  ein  anderes  ersetzt  worden  ist. 
Das  Wort  Causalität  ist  alsdann  ein  blosser  Name,  der  nichts 
mehr  und  nichts  weniger  Problematisches  enthät  als  jeder  andere 
Name.  Ich  sehe  —  um  einen  einfachen  Stoff  zu  nehmen  —  hun- 
dertmal Gold,  ohne  zu  fragen,  wo  es  herkomme;  wenigstens  ist 
die  Wissenschaft  jetzt  so  weit,  auf  diese  Frage  zu  verzichten;  es 
ist  eben  da,  und  mit  diesem  fait  accompli  muss  ich  mich  begnügen. 
Aus  dieser  hundertmaligen  Anschauung  bilde  ich  Vorstellung  und 
Begriff  des  Goldes,   und  Niemandem  fällt  es  ein,   darin  ein  Pro- 

**)  Erscheinungen!  Hinter  das  Wesen  dieser  Beziehungen  zu  ge- 
langen, wird  dem  Menschen  ebenso  versagt  bleiben,  wie  die  Erkenntniss 
des  Dinges  an  sich.  Mit  welchem  Recht  man  aber  den  Erscheinungen  des 
Seienden  etwas  Reelles  zu  Grunde  legt  und  sie  als  uns  von  aussen  gegeben 
betrachtet,  die  Beziehungen  aber  zwischen  diesen  Erscheinungen  für  eine 
rein  subjektive  Zuthat  erklärt,  will  mir  schlechterdings  nicht  einleuchten. 
Und  hat  nicht  vielleicht  Aristoteles  dasselbe  sagen  wollen  mit  den  Worten : 
O'Jte  6)]  cvUTrapyouoiv  dcpwpiajjiEvai  ai  £?eis  oOi'  oltz  ä'AXtüv  e?eu)v  yiyvovxai 
7Vü>aTtxü)T^ptt>v  ocXX'  017:6  aic^dcu);  x-p.  Analyt.  post.  II.  20?  Was  dann 
sonst  die  geforderte  Einheit  zwischen  Sein  und  Denken  herstellen  soll,  ist 
eine  andere  Frage.  Und  ist  sie  denn  wirklich  durch  den  extremen  Idea- 
lismus hergestellt? 


—    31     — 

blem  zu  suchen.  Auf  gleichem  Wege  bilde  ich  mir  aus  hundert 
Anschauungen  einer  mir  erscheinenden  Beziehung  (die  wir  Ur- 
sächlichkeit nennen,  gleichviel,  was  ihr  Wesen  sei)  den  Begriff 
der  Ursächlichkeit.  Nach  ihrem  Woher  und  Wie  zu  fragen,  ist 
ebenso  unberechtigt,  wie  nach  dem  des  Goldes. 

Dass  zum  mindesten  die  Kategorie  der  Causalität  nichts  Sub- 
jektives ist ,  dass  sie  nur  von  aussen  gewonnen,  nicht  an  die  Be- 
trachtung der  Aussenwelt  mit  herangebracht  wird,  das  scheint  mir 
Hume  unwiderleglich  dargethan  zu  haben.     Sein  Adam/')  sein 
Mann  von  noch  so  gutein   Verstände'')   sind  sprechende  Zeug- 
nisse.    Eine   einmalige   Beobachtung  eines   Nacheinander   müsste, 
wenn   die    Kategorie   der   Causalität   dem  Denken    eigenthümlich 
wäre,   zu   der  Unterscheidung  befähigen,  ob  der  vorliegende  Fall 
unter  sie    oder  unter  die  Rubrik  Zufall  gehöre.     Alle  Erfahrung 
bestreitet   dies.    Allein  auch  von  den   anderen    Kategorien   lässt 
sich  darthun ,  auf  diesem  oder  anderem  Wege ,   dass  sie  lediglich 
aus   der  Erfahrung  stammen.     Es  widerstrebt  nicht  nur  dem  na- 
türlichen Gefühl,  dass  ich  die  Kategorie  Dasein  nöthig  haben  solle, 
um  eine  Anschauung—  zu  bilden  oder  zu  empfangen ?  — sondern 
es  ist  in  Wahrheit  nicht  der  Fall.    Aufrichtige  Selbstbeobachtung 
lehrt,    dass    diese  Kategorie   dem  Denken   erst  gegenwärtig  wird 
durch  Vergleichung  mit  dem  Nichtsein,  oder  besser  Fortsein.    Und 
was  erst  durch  Vergleichung  gewonnen  wird  (bewusst  wird),  kann 
unmöglich    dem  Denken   ureigenthümlich    sein.     Und  so  ist's  mit 
den  übrigen  Kategorien   auch;    nur  dass  es  hier   nicht  am  Orte 
ist,  die  Procedur  an  noch  mehreren  vorzunehmen. 

Unzweifelhaft  —  man  muss  es  wiederholen  --  sind  die  Be- 
griffe und  Kategorien  in  den  Anschauungen  enthalten ;  allein,  da 
die  Anschauung  selbst  noch  gar  keine  logische  That  ist,  so  fordert 
sie  auch  keine  logwehe  Verknilpfung.  ' ')  Die  erste  logische  That 
in  dem  Process  des  Denkens  ist  erst  die  Vergleichung  der  durch 
die  Anschauung  mit  Hülfe  der  Erinnerung  erworbenen  Vorstellun- 

**)  Unters,  üb.  d.  menschl.  Verstand,  übersetzt  v.  Kirchm   S   27 
*«)   Ebenda  S.  40. 

Arisiot.  analyt.  post.  1,  24. 


—    32    — 

gen;  daher  wir  bei  einem  noch  nie  Erschauten  sagen,  dass  wir 
uns  nichts  dabei  denken  können.  Die  Anschauung  wird  auch 
dem  Säugling  geliefert,  der  zu  einer  logischen  That  noch  nicht 
fähig  ist;  aber  eben  deshalb  kann  er  auch  nichts  mit  ihr  an- 
fangen. 

Die  Anschauung  ist  einer  jener  problematischen  Punkte,  wo 
das  Körperliche  und  das  Geistige  sich  die  Hand  reichen.  Muss 
das  Geistige  nun  Alles  selbst  hinzuthun,  was  es  in  dem  ihm  vom 
Körperlichen  dargereichten  BethätigungsstofF  finden  will?  Dann 
mtisste  ja  auch  wohl,  wenn  mein  Wille  Arm  oder  Fuss  bewegt, 
Arm  oder  Fuss  den  Anstoss  dazu  gegeben  haben ,  ja  die  Bewe- 
gung raüsste  ausschliesslich  auf  sie  zurückgeführt  werden.  Man 
sieht  nicht,  was  der  Gedanke  da  will.  Und  so  sieht  man  umge- 
kehrt keinen  Zweck  und  Nutzen  der  Anschauung  und  der  Sinne 
ein,  wenn  das  Denken  von  vornherein  mit  den  Begriffen  und  Ka- 
tegorien ausgerüstet  ist.  *'')  Die  Sinne  spielen  alsdann  die  Rolle 
des  Alchymistentiegels,  aus  dem  nur  das  Gold  herauswächst,  das 
der  Adept  vorher  hineingethan  hat. 

Das  würde  heissen,  mit  Schopenhauer,  dass  es  nur  discursi- 
ves  Denken  gebe;  und  in  der  That,  das  soll  es  heissen.  Oder 
mit  anderen  Worten :  Auch  die  Kategorien  sind  nichts  Subjektives, 
sondern  Abbilder  realer,  in  der  Wirklichkeit  bestehender  Ver- 
hältnisse, die  das  Denken  erst  aus  der  Anschauung  der  letzteren 
begriffsartig  abzieht. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte:  welchen  Standpunkt  nehmen 
die  logischen  Untersuchungen  der  Anschauung  gegenüber  ein? 
Dieselbe  soll  eine  derjenigen  Krücken  sein,  deren  sich,  nach  Tren- 
delenburg, die  Dialektik  widerrechtlich  am  öftesten  bedient.  Es 
ist  bereits  zur  Sprache  gekommen,  dass  unsere  Anschauungen 
nicht  willkürlich  sind,  dass  also  die  reale  Welt  ihre  Bilder  ohne 
unser  Zuthun  auf  der  leeren  Tafel  unseres  Innern  verzeichnet 
d.  h.    ohne   unsere   Denkthätigkeit    in  Anspruch  zu  nehmen.     In 


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^>, 


-     33    — 

Zuständen   der  Betäubung,   wo  das  Denken  seine  Thätigkeit  ein- 
stellt, haben  wir  noch  Anschauungen,  Empfindungen,  äussere  Ein- 
drücke; ja,  dieselben  können  bis  zu  der  Stärke  anschwellen,  dass 
sie   das  Vorstellungs-   und  damit  auch  das  Denkvermögen  wieder 
wachrufen,  wie  man  denn  bei  scheinbar  Ertrunkenen  und  Schein- 
todten   überhaupt  durch  Stechen    mit  scharfen  Nadeln  und  Auf- 
träufeln heissen  Siegellackes  das  Bewusstsein  zu  erwecken  und  so 
das  vorhandene  Leben   zu  konstatiren  gesucht  und  vermocht  hat. 
Es  heisst  mithin  die  Begriffe  confundiren,  wenn  man  die  Anschauung 
als   eine  Bethätigungsform  des  Denkens   bezeichnet. -**')     Allein 
nicht    einmal    das  Vorstellen    ist   eine   solche.     Die   Vorstellung 
wird  erzeugt  durch  Erinnerung,  und  die  letztere  ist  nur  dann  eine 
Form   des   Denkens,    wenn   wir   dieses   nicht  im   strengen  Sinne 
nehmen,  nicht  als  einen  Vorzug  vor  den  Thieren  voraushaben,'«) 
nur  als  geistigen  Vorgang  im  Allgemeinen  auffassen  wollen.    Dass 
die  Thiere  Erinnerung  besitzen,  bedarf  keines  Erweises,  der  Hund 
des  Odysseus   ist  ein  Beispiel  dafür.     Von  den  Vorstellungen  der 
Thiere    ist   schon    die   Rede    gewesen.     Der   Löwe,    der   in    des 
Wärters    Reinigungsstange    beisst,     und    dieser    Unart   entwöhnt 
werden  soll,  indem  man  die  Eisenstange  bis  zu  einem  bedeutenden 
Grade  erhitzt,   erhält  eine  so  deutliche  Vorstellung  von  der  ver- 
derblichen Temperatur,  dass  er  die  Stange  fürchtet  wie  den  Tod. 
Erkennt   man  also  in   der  Vorstellung  eine  Bethätigungsform  des 
Denkens,  so  muss  man  auch  den  Thieren  Denkfähigkeit  zusprechen. 
Allein  die  Selbstbeobachtung  zeigt,  dass  das  Denken  (im  strengen 
Sinne)    mit  der  Erinnerung   nichts  zu  thun  hat.     Man  kann  sich 


*•)  Man  werfe  nicht  ein  mit  Kant  (Kr.  d.  r.  V.  S.  119.  149  u.  sonst), 
sie  seien  ja  ohne  Anschauung  leer ;  denn  das  eben  ist  die  gewaltsame  Ab- 
straktion.   Ohne  Anschauung  sind  sie  überhaupt  nicht. 


*')  Anderwärts  (Log.  ünt.  1.68)  nennt  sie  Trendelenburg  im  Anschluss 
an  Aristoteles  ein  Element  des  Denkens,  augenscheinlich  mit  Bezugnahme 
auf  die  oben  angeführte  Stelle  der  späteren  Analytik  IL  20.  Aber  da  ist 
unter  -giotov  -mVAryj  doch  wohl  Grundlage,  Stoff,  Substrat  des  Denkens 
zu  verstehen.  Die  Deutlichkeit  hat  durch  Anwendung  des  zweideutigen 
Fremdwortes  Element  in  keinem  Falle  gewonnen. 

*")  Doch  liegt  es  nach  Erdmann,  Grundr.  d.  Log.  §.  25,  *;*  unserem 
Beicusstsein,  dass  üenken  d  i  e  Funktion  ist,  die  den  Menschen  zum  Menschen 
macht,  und  worin  nach  Hegel  Encykl.  §.  19  Zus.  dessen  Unterschied  vom 
Thiere  besteht. 


3 


—    S4    — 

etwas  genau  einprägen,  selbst  ohne  sich  etwas  dabei  denken  zu 
können.  Ich  entsinne  mich,  durch  häufig  wiederholtes  Anhören 
einer  längeren  Stelle  aus  Job,  welche  einer  meiner  Stubengenossen 
laut  in  hebräischer  Sprache  meraorirte,  den  ganzen  Passus  gleich- 
sam wider  Willen  vollkommen  richtig  meinem  Gedächtniss  ein- 
geprägt zu  haben  ohne  eine  Ahnung  von  Sinn,  Bedeutung  und 
Herstammung  derselben.'')  Ja,  die  Erfahrung  lehrt,  dass  die 
Erinnerung  ohne  Hülfe  des  Denkens  (zwar  langsamer,  aber)  weit 
dauerhafter  arbeitet,  auffasst  und  behält,  als  mit  derselben,  weil 
sie  sich  im  letzteren  Falle  mehr,  als  gut  ist,  auf  die  Mitwirkung 
des  Denkens  verlässt.  Darum  entschwindet  uns  der  Katechismus 
und  die  Lieder,  die  wir,  ohne  sie  zu  verstehen,  in  der  frühesten 
Jugend  gelernt  haben,  unser  ganzes  Leben  hindurch  nicht  wieder, 
während  das  meiste  mit  Verständniss  und  mit  Hülfe  des  Denkens 
Gelernte,  d.  h.  das  durch  das  Denken  schon  Geordnete,  uns  mit 
der  Zeit  nur  zu  leicht  wieder  untreu  wird,  weil  die  Erinnerung, 
so  zu  sagen,  es  in  den  Fächern  des;Gedankenschrein's  durch  das 
Denken  sicher  genug  geborgen  glaubt.'-) 

Die  Vorstellung  ist  aber  auch  die  Grenze,  die  der  inneren 
Thätigkeit  bei  dem  Thiere  sowohl  als  bei  dem  Idioten  und  Mi- 
krocephalen  gesteckt  ist.  Ihr  Vorstellungskreis  ist  so  weit  und 
so  reich  als  der  unsrige,  aber  sie  wissen  nichts  damit  anzufangen. 
Die  bearbeitende  Thätigkeit  fehlt  ihnen.  Zwischen  ihnen  und  den 
grössten  Denkern  liegen  in  langer  Kette  die  Verschiedenheiten  in 


»»)   Erdmann,    Gr.  d.  Psych.   §.  99,   erklärt  die  Vorstellung  für  ein 

Denken,  iceil  die  Intelligenz  ...  durc/i  ihre  eigene  Thätigkeit  einen  Inhalt 
besitzt,  welcher  kein  äusserlicher  mehr  ist.  Hier  entsteht  noch  die  Frage, 
ob  die  Erinnerung  ein  Werk  der  Spontaneität  oder  der  Receptivität  der 
Intelligenz  ist,  ein  willkürlicher  oder  unwillkürlicher  Akt,  kurz,  eine  Thätig- 
keit oder  ein  Leiden.  Nach  den  hier  angeführten  Beispielen  bin  ich  sehr 
geneigt,  das  Letztere  zu  glauben;  die  Intelligenz  gleicht  hier  dem  Wachse, 
welches  —  und  augenscheinlich  ohne  eigene  Thätigkeit  —  das  Bild  der 
Münze  als  Inhalt  empfängt  und  behält. 

»»)  Plato  Phaedr.  S.  275  A.:  toOto  y^^p  t^^'  fxaOovTwv  '/afir^^  ^h  £v 
•}j/alc  zap£$£i  fxvr^fXT^s  afxeXeTT^ata ,  otxe  oia  -iotiv  Ypa?^?  e|u){)ev  .  .  .  oux 
Evoodev  auTO'Js  ücp'  ctÜTÄv  avafxvr^oxofAEvo'Js.  Bezieht  sich  dies  auch  hier 
nur  auf  die  Schrift,  so  ist  die  Parallele  doch  unverächtlich. 


—    35    — 

der  Begabung  dieses  Vermögens.  Der  Dumme  steht  dem  Thiere 
so  viel  mehr  näher,  als  seine  Fähigkeit  geringer  ist,  die  wuchtende 
Masse  der  Vorstellungen  zu  ordnen  und  zu  bearbeiten.  ^  *)  Weiter 
aber:  da  die  Anschauungen  Objekt  und  Bethätigungsstoff  der  Er- 
innerung sind,  so  können  sie  nicht  Objekt  des  Denkens  sein;  ja 
das  (streng  genommene)  Denken  würde  mit  der  blossen  Anschauung 
schlechterdings  nichts  anzufangen  im  Stande  sein,  wenn  sie  ihm 
nicht  von  der  Erinnerung  bearbeitet  und  fixirt  überliefert  würde. 
Dass  man  aus  der  Anschauung  eines  Baumes  unmittelbar  keinen 
'Begriff  bilden  kann,  leuchtet  ein.  Ich  kann  auf  einmal  immer  nur 
einen  Baum  anschauen,  jetzt  eine  Weide,  jetzt  eine  Eiche.  Aber 
wo  sollte  der  Begriff  herkommen,  wenn  im  Weitergehen  von  der 
Weide  zur  Eiche  zugleich  mit  der  Anschauung  der  Weide  die 
Vorstellung  davon  aufhörte? 

Was  folgt  hieraus?  Dass  das  Denken  die  Anschauung  nicht 
verwenden  kann;  dass  also,  wenn  Trendelenburg  Hegeln  vorwirft, 
er  habe  dem  Denken  durch  Zurücksreifen  auf  die  Anschauunor 
oder  heimliches  Einschmuggeln  derselben  fortgeholfen  und  neuen 
Stoff  verschafft,  dies  entweder  und  mindestens  ein  P^ehler  im  Aus- 
druck ist,  oder  aber,  dass  der  Vorwurf  innerlich  unbegründet  ist, 
sobald  Anschauung  bei  Trendelenburg  nicht  anders  als  im  eigent- 
lichen Sinne  genommen  werden  kann.  Denn  das  Denken  kann 
die  Anschauung  höchstens  als  Probirstein  für  die  Richtigkeit  der 
von  ihm  zu  verarbeitenden  Vorstellungen  verwenden,  zu  sonst 
weiter  nichts. 


Die  dialektische  Negation. 

Als  die  lo(jischen  Mittel  der  Dialektik,  um  aus  dem  leeren 
Sein  durch  die  Mittelglieder  der  zwischenliegenden  Geschlechter 
hindurch  die  absolute  Idee  zu  erzeugen,  werden  von  Trendelenburg 
(I.  43)  die  Negation  und  die  Identität  bezeichnet. 


*')  Rob.  Reinick:    Wenn's   Glück  ihm  günstig  ist,  was  hilf Vs  dem  Michel? 

Steht  er  im    Weizenfeld,  fehlt  ihm  die  Sichel. 
IVenns  Glück  ihm  günstig  ist,  was  hilf^s  dem  Toffel? 
Denn  regnet's  Hirsebrei,  fehlt  ihm  der  Löffel, 

3* 


—    36    — 

Die  Negation  besteht  darin,  dass  der  eben  erworbene  Begriff 
durch  seine  eigene  Natur  in  seine  Negation  umschlägt;  inwiefern 
nun  die  nothwendige  Aufgabe  entspringt,  das  Positive  mit  dessen 
Negation  zusammenzudenTcen,  soll  dieser  entstandene  Wider- 
spruch durch  einen  dritten  Begriff,  den  die  Dialektik  hervor- 
bringt, gelöst  werden.  Bei  einer  tieferen  Untersuchung  verkehrt 
sich  dieser  positive  Begriff  wiederum  in  sein  negatives  Gegen- 
thdl,  und  dadurch  wiederholt  sich  der  beschriebene  Vorgang 
einer  neuen  Geburt.  Hiernach  ist  die  Verneinung  der  treibende 
Stachel  der  ganzen  Bewegung. 

Wir  sehen  zunächst  von  den  Ausdrücken,  umschlagen,  ent- 
springen, hervorbringen,  sich  verkehren,  Vorgang,  Geburt,  Be- 
wegung ab,  welche  alle  den  ganz  unhegelschen  Begriff  der  Be- 
wegung in  eine  Welt  von  ruhenden,  sich  gleich  gegenüberstehenden 
Begriffen  und  Beziehungen  hineintragen,  während  die  Bewegung 
in  Wahrheit  nur  in  dem  Fortschritt  des  Lehrens  und  Lernens, 
nicht  in  der  Sache  selbst  beruht,  um  zunächst  dasjenige  zu  ver- 
folgen, was  Trendelenburg  gegen  den  entwickelten  Ideengang 
geltend  macht. 

Und  da  kann  man  ihm  nur  beistimmen,  wenn  er  die  Negation 
nicht  als  logische  Negation  (Widerspruch,  contradictio) 
sondern  als  reale  Opposition  (Gegensatz,  Oppositio 
contraria)  auffasst.  Hegel  selbst^' •)  und  die  Hegelianer  haben 
diese  Auffassung  ausdrücklich  für  die  ihrige  erklärt  (Log.  ü.  L  44 
Anm.  3).  Allein  hier  fällt  sofort  auf,  dass  die  Inconsequenz  im 
Ausdruck  HegeFs  nicht  nur  nicht  gerügt,  sondern  selbst  adoptirt 
wird,  indem  durchweg  von  Widerspruch  die  Rede  ist,  wo  in 
Wahrheit  nach  der  formalen  Logik  nur  conträre  oder  reale  Oppo- 
sition stattfindet.  Man  kann  geneigt  sein,  diese  üngenauigkeit  für 
eine  Bagatelle  anzusehen,  allein  es  wird  sich  bald  finden,  dass 
aus  ihr  allein  die  ganze  Spukgestalt  des  treibenden  Stachels  ent- 
sprungen ist.  »^)    Bei  Trendelenburg  zunächst  entsteht  die  Frage, 

**)  Z.  B.  Logik  I.  S.  40:  dass  das  Negative  ebensosehr  positiv  ist,  oder 
dass  das  sich  Widersprechende  sich  nicht  in  Null,  in  das  abstrakte  Nichts 
auflöst,  sondern  wesentlich  in  die  Negation  seines  besonderen  Inhaltes  u.  s.  f. 

**)  Vgl.  ülrici,  Prineip  u.  s.  w.  S.  51,  87  u.  sonst. 


—    37    — 

ob  sich  die  reale  Opposition  auf  blos  logischem  Wege  gewinnen 
lasse.     Aber  wie   ist  das  anders  möglich,  wenn  die  Logik  über- 
haupt von  der  realen   Opposition   etwas   wissen,   wenn   sie  diese 
Beziehung  statuiren   und  mit  ihr  operiren  soll?     Wie  würde  die 
Logik  die  Negation   an  sich  in  jene  beiden  Unterarten  scheiden 
können,   wenn   sie  nicht   aus  sich  zum  Bewusstsein  dieses  Unter- 
schiedes zu  gelangen  vermöchte?  Vielmehr  ist  die  Frage,  ob  die 
Logik  das  unterscheidende  Charakteristikum  der  realen  Opposition 
verwerthen    kann;    ob    das  Neue,    was   der    Gegensatz   an    die 
Stelle  des   Verneinten  setzt,  für  ein  blos  logisches  Verfahren  ver- 
ständlich und  verwendbar  ist.    Wenn  in  dem  Gegensatz  we iss- 
schwarz  die    Logik    nichts    weiter    zu    finden  weiss,    als   dass 
schwarz  nur  eben  nicht  weiss  ist,  mit  welchem  Rechte  trennt 
sie    alsdann  diese  Negation   von    der  blos   logischen,   contradik- 
torischen?   Dann  giebt  es  überhaupt  nur  eine  Art  von  Negation 
und   das  gesetzte  Neue   ist   ebenso  unwesentlich   und  gleichgültig 
wie    die    ganze   Unterscheidung.     Dass  also    das  schwarz  mehr 
enthalten  müsse  als  das  nicht  weiss,  das  muss  der  Logik  aus 
sich  selbst  klar  sein ,    und   die  Anschauung  ist  dazu  nicht  eben 
weiter  nöthig,  als  sie  der  Logik  durchweg  nöthig  ist.    Aber:  was 
nun  Neues   durch   das  schwarz  gesetzt  werde,  das  in  der  That 
kann  die  Logik  aus  sich  selbst  weder  begreifen  noch  verwerthen, 
d.  h.    die  Logik   sieht   und   weiss   die    andersgeartete  Beziehung, 
aber  sie  sieht  und  weiss  nichts  von  dem  realen  begriffe,  der  jener 
Andersartung  zum  Grunde   liegt,    und  der  in  der  That  nur  aus 
der  Anschauung  gewonnen   werden   kann.     Hier  erhellt  zunächst 
der  Grund  der  oben  angedeuteten  sprachlichen  Inconsequenz.    Ist 
das  Ebengesagte  richtig,   so  verschwindet  in  Wirklichkeit  für  die 
Logik,   wenn  sie  fortoperiren  soll,   der  Unterschied  zwischen  den 
beiden  Arten   der  Negation.     Wenn  ich  nicht  weiss,  was  in  dem 
Begriffe  schwarz  Neues  liegt,   so  hat  er  für  mein  Wissen  nicht 
um  ein  Haar  mehr  Werth  als  der  Begriff  nicht  weiss.^«)   Aus 
diesem  Grunde  war  es  in  der  That  gleichgültig,  ob  sich  Hegel  des 
Ausdruckes  Widerspruch  oder  Gegensatz  für  seine  Negation  bediente. 


•)  Ulrici  a.  a.  0. 


—    38    — 

Nun  aber  operirt  Hegel  wirklich  fort;  er  bringt  ein  Neues, 
welches  nach  Trendelenburg  eben  nur  jenes  Neue  sein  kann,  das 
die  reale  Opposition  an  Stelle  des  Neglrten  setzt;  und  wo  bringt 
er  es  her?  aus  der  reflektirenden  VergleicUunf/.'''')  Von  diesen 
beiden  Sätzen  ist  einer  so  zweifelhaft  als  der  andere.  Man  prüfe 
nur  das  Beispiel,  dessen  sich  Trendelenburg  bedient  und  welches 
am  nächsten  lag,  das  Verhältniss  zwischen  Sein,  Nicht  und 
Werden,  selbst  angenommen,  es  seien  dies  Begriffe,  Das  i^ehie 
Sein  setzt  sich  in  das  Nichts  um  .  ...  es  (fieht  also  kein  reines 
Sein ,  es  ist  Nichts,  Das  Nichts  ist  hier  mir  gewonnen ,  in- 
imefern  das  reine  Sein  des  Denkens  mit  dem  vollen  Sein  der 
Anschauung  verglichen  ist.  Das  Denken  hat  also  etwas  Amleres 
ausser  der  ersten  Bestimmung  in  seinem  Busen  versteckt  und 
geivinnt  die  neue  Bestimmung  durch  reßektirende  Yergleichung 
mit  diesem  unrechtmässigen  Begriffe.  Nun  wohl;  dies  Alles 
zugegeben,  welches  ist  denn  diese  neue  Bestimmung?  Offenbar 
doch  jenes  Andere^  welches  die  reale  Opposition  in  ihrer  Ver- 
neinung setzt,  welches  das  Denken  in  seinem  Busen  versteckt  hat. 
Dies  also  wäre  das  Werden. 

Es  ist  schon  auffallend,  dass  Trendelenburg  nicht  bis  zu 
dieser  Consequenz  fortgegangen  ist;  er  spricht  nur  von  der  neuen 
Bestimmung,  nennt  sie  aber  nicht  beim  Namen;  man  darf  dabei 
nicht  vergessen,  dass  er  den  Gedankengang  HegeKs  billigt,  sobald 
man  das  Recht  zugesteht,  das  im  Busen  des  Denkens  versteckte 
Neue  wirklich  einzuschmuggeln.  Indessen  zeigt  die  Beobachtung, 
dass  alles  Einschmuggeln  nimmermehr  auf  das  Werden  führt. 
Das  Nichts  wäre  nach  Trendelenburg  die  Negation  des  Sein,  d.  h. 
die  reale  Opposition;    ihr  Wesen  ist,   dass  sie  ausser  jenem  Ne- 


*')  Ulrici  a.  a.  0.  tadelt  als  das  unrechtmässige  Eingeschmuggelte 
die  Beziehung  des  Uebcrgehens,  Allein  m.  E.  will  Hegel  unter  dem  Ueber- 
gehen  nichts  Anderes  verstanden  "wissen,  als  was  Ulrici  selbst  gleich  darauf 
(S.  51)  über  das  Verhältniss  zwischen  Identität-Position  und  Nichtidentität- 
Negation  entwickelt;  schärfer  wird  der  Unterschied  S.  56  gefasst,  allein 
auch  da  erscheint  er  mir  nicht  als  ein  wesentlicher.  Mit  dem  Vorwurf 
S.  57,  dass  die  Hegeische  Methode  blosse  abstrahle  Bewegung  sei,  kann  ich 
mich  nicht  einverstanden  bekennen. 


•  i 


—    39    — 

giren  ein  Neues  setzt;  allein  wer  vermag  zu  beweisen  oder  auch 
nur  zu  behaupten,  dass  das  Nichts  das  Werden  im  Busen  ver- 
steckt halte?  Selbst  wenn  man,  abweichend  von  Trendelenburg, 
Sein,  Nicht  und  Werden  mit  unseren  früheren  Erörterungen  für 
blosse  Beziehungen  hält,  so  hat  die  Beziehung  des  Nichtseins 
schlechterdings  nicht  das  Werden  im  Busen.  In  dem  Gegensatz 
Eiche-sein  und  Nicht-Eiche-sein  setzt  die  Negation  allenfalls 
Weide-sein  oder  Ahorn-sein,  oder  was  immer  sonst  als  das  Neue; 
aber  nur  in  einem  einzigen  Falle  das  Eiche-werden,  und  ein  so 
Vereinzeltes  ist  kein  Allgemeines,  d.  h.  Nothwendiges. 

Wenn  nun  solchergestalt  Trendelenburg  der  Dialektik  durch 
Annahme  der  realen  Opposition  in  der  reflektirenden  Vergleichung 
auch  nicht  einmal  bedingungsweise  vom  Flecke  hilft,  wie  ist  ihr 
dann  zu  helfen?  Wo  kommt  das  Neue  her,  wenn  es  nicht  das 
Neue  der  realen  Opposition  ist?  Und  unter  welche  Arten  von 
Negation  ist  die  Hegeische  zu  rubriciren?  —  In  Wahrheit:  es 
ist  der  Dialektik  eben  nicht  zu  helfen;  ihre  Negation  ist  weder 
die  logische,  denn  das  soll  und  kann  sie  nicht,  noch  die  reale, 
denn  sie  hilft  zu  nichts.  Es  ist  ihr  nicht  zu  helfen,  weil  sie  eine 
immanente  Entwickelung  der  Begriffe  nur  zu  sein  behauptet,  in 
Wahrheit  aber  ein  leeres  Spiel  mit  kahlen  Beziehungen  ist^^) 

Denn  um  die  Beispiele  Trendelenburg's  weiter  zu  betrachten, 
so  führt  in  Ansehung  des  Begt^ff'es  der  Veränderung  (Log.  U. 
I.  45)  die  kritische  Betrachtung  auf  völlig  dem  vorigen  gleichem 
Wege  zum  völlig  gleichen  Ziele.  Sein  für  Anderes,  Anderssein 
und  Veränderung  gehen  dem  Sein,  Nicht  und  Werden  parallel, 
sie  stehen  in  ganz  demselben  Verhältniss.  Woher,  fragt  Tren- 
delenburg S.  46 ,  weiss  das  dialektische  Denken ,  das  für  jetzt 
nur  das  Etwas  betrachtet,  durch  dies  JEtwa>s  von  einem  Etwas 
ausser  der  Grenze?  Sonderbare  Frage!  Könnte  das  Denken 
überhaupt  das  Etwas  betrachten,  wenn  es  nicht  vorhanden  wäre? 


*")  Vgl.  beispielsweise  Ulrici  a.  a.  0.  S.  85:  Ea  kommt  darauf  an, 
was  unter  dem  ISichts  verstanden  wird.  Dies  ist  das  Urtheil  der  dialek- 
tischen Methode.  Eins  und  dasselbe  in  verschiedenem  Sinne  zu  verstehen, 
ist,  was  Trendelenburg  mit  Recht  das  leere  Spiel  mit  kahlen  Beziehungen 
nennt. 


—    40    — 

Um  aber  vorhanden  zu  sein,  muss  es  Grenzen  haben;  die  Grenze 
wiederum  ist  nur  denkbar  durch  und  vermittelst  eines  andern 
Etwas,  eines  Mwas  ausser  der  Grenze;  wenn  nämlich,  wie  Tren- 
delenburg mit  Recht  sagt,  die  Grenze  ihrem  Wesen  nach  eben- 
sosehr ausschliessende  Abwehr  als  Berührung  ist.  Weiss  ich 
von  Keinem,  das  abgewehrt  und  berührt  wird,  so  weiss  ich  auch 
von  keiner  Abwehr  und  Berührung,  d.  h.  von  keiner  Grenze  und 
damit  überhaupt  von  keinem  Etwas.  Mit  dem  Etwas  ist  all'  das 
zugleich  gegeben. 

Ohne  Frage  weiss  also  das  dialektische  Denken  bei  Betrach- 
tung des  Etwas,    dass  ein  Etwas  jenseit  der  Grenze  existirt, 
nur  vom  Wesen    dieses  Etwas  weiss    es  nicht;    es  weiss  on  f^v, 
aber  das  xi  r^v  entgeht  ihm.      Ist   das   aber  nothwendig,  um  zu 
dem    leeren    Begriff  (Beziehung)    des    Andersseins    zu  gelangen? 
Nimmermehr.    Der  Begriff  der  Grenze  setzt   zwei  Etwas  voraus, 
die   sich   in  ihr  berühren  und  abwehren.     Das    muss  zugegeben 
werden.    Diese  ausschliessende  Verschiedenheit  nennt  die  Sprache 
Anderssein,  gleichviel,  welches  der  reale  Inhalt  jener  beiden  Etwas 
ist.     Wie   in   aller  Welt  ist  dazu  die  reßektirende  Vergleichung 
nöthig?  Ferner,  dass  dies  Ausschliessungsverhältniss  als  Negation 
gefasst  wird  und  zwar  als  reale  Opposition,  wer  könnte  das  miss- 
billigen oder  widerlegen?  Aber  nun  müsste  nach  Trendelenburg s 
EntWickelung  das   negirende  Etwas    ein  Neues   im  Busen  haben 
und   setzen,   ein   Neues,  welches  denn  der  neue,   durch  den  trei- 
benden Stachel   des    Widerspruches    zu    Tage   geförderte   Betriff 
wäre,  und  dies  müsste  die  Veränderung  sein.     Wie  aber  kann  ein 
Etwas  die  Veränderung  im  Busen  tragen?  Wasser  sei  das  Etwas, 
Luft  das  Andere,   d.  h.    das  Nicht-etwas.     Nun   kann  doch   der 
Begriff  Anders-    (als  Wasser)  sein   ebenso  gut  das  Erde- 
sein   oder  Feuer-sein  im  Busen   tragen,    als   denjenigen   des 
Sich-    (in  Luft)   Veränderns,   d.h.    wir  erlangen   abermals 
eine    vereinzelte  Beziehung,  die  tausend  anderen  an  Wahrschein- 
lichkeit   des   durch  die  Opposition   Gesetzt- Werdens   höchstens 
gleichsteht    und    somit    für  den  immanenten  dialektischen  Fort- 
schritt vollständig  werthlos  ist. 

Es  ist  bemerken^werth ,   dass   Trendelenburg   auch  hier   die 


—    41     — 

Consequenzen   seiner  eigenen  Annahme,    nach   welcher  die  Ent- 
wickelung  des  Begriffes  aus  der  realen  Opposition  (wenn  auch  nur 
mit  Hülfe    der    reflektirenden    Vergleichung    und    der   Bewegung) 
möglich  wäre,   nicht  gezogen   hat;    er  wäre  sonst  auf  das  Unge- 
gründete dieser  Annahme  gekommen.    Aber  die  Erwähnung  seiner 
Lieblingskategorie,  der  Bewegung,  scheint  ihn  gleichsam  davon  ab- 
zurufen,   auf  einen  anderen  Tummelplatz,  wo  er  gegen  die  alten, 
selbstgeschaffenen   Schatten   streitet;    überall  findet  er  üebergang 
und  Bewegung,  wo  Hegel  nur  sagt:    das  Anderssein  ist  nicht  ein 
gleichgültiges   ausser   dem  Etwas,   sondern  sein  eigenes  Moment; 
Etwas   ist    durch   seine   Qualität   hiermit   ersüiclt    endlich  ivnd 
zweitens  veränderlich  u.  s.  w.    Und  was  hülfe  auch  alle  Bewegung, 
um   den  Begriff  (Beziehung)  der  Veränderung  zu  erklären?    wFe 
ist  es  möglich,  dass  das  Etwas  in  das  Andere  übergehe,  ohne  mit 
der  Grenze  zugleich  sein  eigenes  Sein  und  Wesen  zu  vernichten ? 
Nicht   anders   bei   Gelegenheit  der  Repulsion  (L.  U.  L  48). 
Freilich:    im  Worte  Repulsion  liegt  seiner  Abstammung  nach  der 
Begriff   der  Bewegung.     Aber  das  beweist  höchstens,    dass  der 
Ausdruck  unglücklich  gewählt  ist,   zumal  Hegel  ja  ausdrücklich 
bezeichnet,    was    er    darunter   verstanden    wissen   will,    nämlich 
negatives   Verhalten  und  Beziehung.    Nun   können  sich  aber  Be- 
griffe augenscheinlich  zu  einander  verhalten  und  auf  einander  be- 
ziehen,  ohne   dass  auch   nur  das  Bild   der  Bewegung  zum  Ver- 
ständniss  solcher  Verhältnisse  erforderlich  wäre.    Diese  Repulsion 
ist  vollständig  verständlich  auch  ohne  die  begleitende  Vorstellung 
der  räumlichen  Bewegung,  ja  sie  würde  mit  der  letzteren  schlechter- 
dings nichts  anzufangen  wissen,  wie  oben  bereits  bemerkt-  worden 
ist.  ^«)     Genau  ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Ausdrucke  Selbst- 
zerspUtterung ,  auf  den  sich  Trendelenburg  I.  49  beruft.     Freilich 
ist   die    Sprache  Hegel's  dunkel   und  schwer  verständlich;    denn 
was  soll   die  Beziehung   des  Negativen  auf  sich  selbst  bedeuten? 
Das  Negative   soll  jedenfalls   heissen:    die  Negation  des  Etwas, 
d.  h.   also    das  Andersseiende ;   dies  auf  sich  bezogen,   (d.  h.  das 

*»)    Damit  wäre  denn   auch   die  Erörterung  Log.  ünt.   1.   S.  49—50 
widerlegt. 


—    42    — 

Andersseiende  des   Andersseienden)  ist   das   Fürsicliseiende ,   das 
Eins.  —  ein  langathmiger  Cirkel,  für  den  weit  kürzer  und  deut- 
licher gesagt  werden   konnte:    Wir  nennen   das   Etwas  in  seiner 
Coordination  zu  anderen  Etwas  das  Eins.    Aber  da  ist  keine  Zer- 
splitterung.    Der  Flügelmann  einer  Corapagnie  ist  im  Verhältniss 
zu  seinen  Kameraden  ein   blosses  Eins.    Aber  inwiefern  wird  da- 
durch  der  Begriff  seiner  als   des  Eins  zersplittert?   Auch  warum 
die  Beziehung  des  Negativen  auf  sich  selUi  nicht  negative  Be- 
zlehuwf,    nicht  Unterscheidung  sein   soll,  ist  nicht  abzusehen,   da 
doch  Beziehung   des  Negativen  unter   allen   Umständen   negative 
Beziehung,  d.  h.  Unterscheidung  ist,  es  mag  sich  beziehen,  worauf 
es   wolle.     Der  wahre   Fehler  Ilegel's  beruht  vielmehr  auch  hier 
auf  der  Vermengung  ganz  verschieden  gearteter  Beziehungen.    Die 
beiden  Etwas  heissen  nun  die  beiden  Eins ;  niemand  kann  leugnen, 
dass    sie    sich    von    einander   unterscheiden    —    wohlverstanden: 
ein  Eins    unterscheidet  sich    von    einem    Eins;    aber  hieraus   zu 
folgern,  dass  sich  das  Eins  von  sich  selbst  unterscheide,  heisst  allen 
Regeln  des  Denkens  Gewalt  anthun;    denn   dort  ist  das  Eins  in 
concretem  Sinne  genommen,  hier  im  abstrakten ;    dort  bezeichnet 
es  das   Einzelne,   das  Individuum,   hier  den  allgemeinen  Begriff; 
dort   mit  einem  Worte  steht  es  singularisch,   hier  pluralisch. '• «) 
Und  der  Erfolg   sind  jene  Thesen,   die   allem  Denken   und  Ver- 
stehen so  schnurstracks  zuwiderlaufen;  dass  sich  etwas  von  sich 
selbst  unterscheide,  von  sich  selbst  repellire,  sich  in  ein  Vielfaches 
seiner  selbst  zersplittere.     Nirgends  in  der  Welt  der  Erscheinung 
und  Erfahrung  finden  wir  ein  Analogon  für  diese  tiefsinnig  schei- 
nenden Paradoxen;    aber  mit  welchem  Rechte  will  sich  der  Ge- 
danke   den    Gesetzen    der    allgemeinen    Weltordnung    entziehen? 
Und  wie    sollen  wir  ihm  zu  folgen  vermögen,  da  alle  Möglichkeit 
der    Verständigung    eben    in    jenen    allgemeinen    Gesetzen    be- 
schlossen ist? 


•0)  Hier  schlägt  der  Vorwurf  ein,  den  Ulrici,  Syst.  d.  Log.  S.  109 
Hegeln  macht,  dass  er  die  Natur  ^des  Vntcrschicdes  verhenne.  Dasselbe 
Objekt  nämlich  sei  darin,  worin  es  positiv  es  selbst  sei,  zwar  zugleich 
relatives  Nichtsein  des  Andern;  beides  aber  sei  keineswegs  an  sich 
einerlei. 


43 


In  der  That  war  gerade  hier  das  Spiel  mit  leeren  Beziehungen 
zu  augenfällig,  als  dass  Trendelenburg  es  hätte  ignoriren  können, 
für  den  ja  doch  die  Widerlegung  der  dialektischen  Methode  nur 
Werth  hat,  soweit  sie  seinen  eigenen  positiven  Kategorien  (Be- 
wegung u.  s.  w.)  zu  Gute  kommt.  In  Kap.  7,  bei  der  Entwicke- 
lung  der  Gegenstände  a  priori  aus  der  Bewegung  und  der  Materie 
betrachtet  er  noch  einmal  das  Eine,  das  Andre,  das  Viele,  Ver- 
änderung, Repulsion  und  Attraktion.  Hier  kommt  er  denn  hin- 
sichtlich der  dabei  angeblich  obwaltenden  Identitäten  zu  einem 
unserem  obigen  sehr  nahe  verwandten  Ergebniss;  er  nennt  die 
Identität  der  Eins  unter  einander  oder  des  Eins  mit  dem  Andern 
eine  lediglich  in  die  Betrachtung,  nicht  in  die  Sache  /allende; 
aus  eitler  solchen  Identität  einer  nach  einer  einzigen  Seite  hin- 
geinchteten  Vergleichung  kann  die  Identität  der  Mepulsion  nnd 
Attraktion  nicht  folgen;  (I.  296)  sagen  wir  mehr:  es  kann  gar 
nichts  daraus  folgen;  die  vielen  JEins,  sagt  Hegel,  sind  gleich, 
imviefern  sie  alle  dieselbe  ausschliessende  Thätigkeit  nben,  und 
Trendelenburg  setzt  hinzu:  die  beschränkende,  eine  einseitige  Be- 
trachtung einführende  Conjunction  iriwiefern  ivarnt  vor  der 
Annahme  einer  Gleichheit  des  Wesens;  wo  aber  Gleichheit  des 
Wesens  fehlt,  Beziehung  überhaupt  des  Wesens,  da  kann  sich 
offenbar  niclits  Wesentliches  entwickeln.  So  lange  sich  daher  die 
Dialektik  nicht  damit  begnügt,  etwa  blos  Methode  und  Entwicke- 
lung  der  Beziehungen  zu  sein,  kann  man  ihr  eine  durchgehende 
und  immanente  Bedeutung  für  die  Welt  der  Begriffe .  nicht  zu- 
gestehen. £ine  solche  Dialektik  nennt  Trendelenburg  (I.  299) 
mit  Recht  ein  krauses  Arabeskenspiel  abstrakter  Begriffe  (Be- 
ziehungen) nnd  das  Geschnörkelte  und  Verschlungene  giebt  den 
Schein  des  Tiefsinnigen  her.  Anderswo  (II.  271)  heisst  der  so- 
genannte dialektische  Fortschritt  ein  willkürlicher  WecJisel  der 
Vorstellung,  ein  Wechselspiel.  —  Zunäclist  Keisst  es:  das  Ein- 
zelne ist  allgemein;  sodann  aber:  das  Einzelne  ist  nicht  allgemein. 
Dies  ist  nichts  weiter  als  eine  gemachte  Schwierigkeit,  ein  Wider- 
spruch, der  keiner  ist,  und  der  zu  nichts  treiben  und  führen  kann. 

Ueberall  aber   ist   es  nicht  zu  billigen,    dass  Trendelenburg 
Hegeln   den  fremden  Begriff  der  Bewegung  unterschiebt,  von  dem 


—    44    — 

Hegel  nichts  sagt,  oder  wenn  er  etwas  sagt,  nur  durch  eine 
mangelhafte  Ausdrucksweise  äusserlich  einen  Gedanken  verwirrt, 
der  seinem  Wesen  nach  nichts  mit  der  Bewegung  zu  thun  hat. 

Man  kann  es  sich  ersparen,  die  Werthlosigkeit  der  sogenannten 
dialektischen  Negation  durch  weitere  Beispiele  zu  verfolgen  (I.  51). 
Ueberall  stellt  sich   auf  dem  nämlichen  Wege  das  nämliche  Re- 
sultat heraus;   dass  sich  Widersprüche,  wie  sie  die  Dialektik  an 
ihren  Stoffen   herausfindet  und  herauskehrt,   um  sich  selber  damit 
gewissermassen   anzuspornen,   an  jedem  Begriffe  in  seinen  Bezie- 
hungen auffinden  zu  lassen;   dass  diese  eigenthümliche  Natur  des 
Begriffes  immerhin  als  Stoff  zu  einer  tiefsinnigen  Betrachtung  mag 
dienen    können;     dass     aber     diese    Widersprüche    aus    blossen 
Beziehungen   mit   der  Negation,   logischen  wie  realen,  schlechter- 
dings nichts  zu  thun  haben  und  zur  Erkenntniss,  geschweige  denn 
Entwickelung  der  Begriffe  nichts  beitragen,   weil  aus  blossen  Be- 
ziehungen   der  Dinge  ihr  Wesen  nicht  ergründet   werden   kann, 
man  mag  nun  Anschauung,  Vergleichung  oder  Bewegung  zu  Hülfe 
nehmen. 

Wäre  sich  Hegel,  so  klar  er  sich  darüber  war  (vgl.  Encycl. 
§.  81),  dass  seine  Negation  nicht  blosse  logische  sei,  in  der  Con- 
sequenz  hieraus  eben  so  klar  gewesen,  dass  sie  mithin  keinen 
Widerspruch  involvire;  hätte  er  sich  also  diese  geringfügig  aus- 
sehende sprachliche  Ungenauigkeit  nicht  zu  Schulden  kommen 
lassen,  so  hätte  er,  da  sich  seine  Dialektik  ohne  einen  solchen 
Stachel  nun  einmal  nicht  forthelfen  kann,  sie  entweder  ganz  auf- 
gegeben, oder  einen  besseren  Stachel  auffinden  müssen;  ob  sich 
ein  solcher  finden  Hesse,  ist  eine  Frage  für  sich.  Trendelenburg 
lässt  (I.  56)  zwischen  den  Zeilen  lesen,  dass  er  durch  den  realen 
Gegensatz  die  dialektische  Entwickelung  der  Begriffe  für  möglich, 
wenn  auch  nicht  für  ein  Eigenthum  des  reinen  Denkens  halte; 
ob  mit  Recht,  ist  'eines  Andern  Sache  zu  entscheiden. 

Die  Identität. 

Bei  der  Betrachtung   der  Identität   geht  Trendelenburg   dem 
schon   mehrfach    nachgewiesenen   Fehler,    dem   Spiel   mit  Bezie- 


^• ' 


—    46    — 

hungen,  am  nachdrücklichsten  und  geradesten  zu  Leibe;  er  nennt 
sie  gleich  (I.  59)  eine  nackte  Beziehung  des  vergleichenden  Den- 
kens; und  dieser  Entschiedenheit  ist  es  zu  danken,  dass  man  zu 
Trendelenburg's  Einwendungen  kaum  ein  Wort  zusetzen  kann, 
welches  etwa  ein  neues  Streiflicht  auf  die  Mängel  der  Dialektik 
zu  werfen  vermöchte.  Ein  Wort  erschöpft  sie  (I.  57) :  die  Iden- 
tität ist  in  ihrem  Grunde  nichts  als  die  Reflexion  der  logischen 
Gleichheit;  d.  h.  sie  ist  das  Vorhandensein  einer'')  gemein- 
schaftlichen Beziehung  zwischen  zwei  Begriffen,  aber  sie  er- 
scheint nur  ?m  Resultate  als  die  reale  Einheit;  d.  h.  die  Fol- 
gerung realer  Einheit  aus  jener  vereinzelten  Beziehungseinheit  ist 
eine  Scheinfolgerung,  ein  Widersinn. 

Erstes   Beispiel  hierfür  ist  die  Gewinnung  des  Begriffs  Un- 
endlichkeit.    Das  Etwas    setzt   nach   Hegel    das   Andere  voraus. 
Das  Andere  ist  im  Verhältniss  zu  jenem  Etwas  selbst  ein  Etwas, 
und  jenes  Etwas  ist  sein  Anderes;  diese  Beziehung,  die  man  (wenn 
man  fortwährend  neue  Etwas  in  Betracht  zieht)  fortwährend  fort- 
setzen kann ,   in  der  That  ohne  Ende ,   nennt  Hegel  die  schlechte 
Unendlichkeit.     Man   kann  sie  sich  veranschaulichen  als  eine  ge- 
rade Linie  oder  eine  Zahlenreihe  ohne  Ende.    Aber  was  ist  damit 
gewonnen?     Ist  damit  die  Unendlichkeit  denkbar  geworden?    So 
wenig,  als  die  endlose  Gerade  denkbar  oder  darstellbar  ist.    Für 
die   eine    undenkbare  Beziehung  ist  eine  andere  gegeben,   die  bei 
näherer  Betrachtung  sich  als  genau  dieselbe  herausstellt,  nämlich 
als  Un-End-lichkeit.     Mit  Trendelenburg's  AVorten :  Jedes  eigen- 
thimiliche  Kennzeichen  erlischt;  und  es  ist  unter  dieser   Voraus- 
setzung gleichgültig,  ob  man  das  Eine  oder  das  Ändere  das  Än- 
dere  des  Änderen   nennt;    diese  nackte  Beziehung  geht  den.  Ge- 
danken der  Sache  nichts  an.    Es   wird  daraus  nichts,    denn  es 
schwebt  die  Vergleichung  hoch  über  der  Sache.    Es  ist  das  Nichts- 
sagendste von  der  Welt.     Hier  ist  nichts  weiter  hinzuzufügen.'^) 
Weiter:    da  das  Etwas  zugleich  das  Andere  ist,    so  geht  es 

•0  Vgl.  Log.  Unt.   I.  S.  60:    In  dieser  Beziehung  ist  allerdings  Iden- 
tität da,  aber  mir  in  dieser  Beziehung. 

•»)  Weitere  gegründete  Einwüife  gegen  diese  sehr  schlechte  Unendlich- 
keit b.  Ulrici,  Princip  u.  s.  w.  S.  98. 


^    46    — 

im  Uebergang   ia   das  Andere   mit  sich    selbst  zusammen;    diese 
Beziehung  im  Uebergehen  und  im  Anderen  auf  sich  selbst  ist  die 
wahrhafte  Unendlichkeit,  veranschaulicht  durch  die  in  sich  zurück- 
kehrende Linie,   den  Kreis.     Aber   diese  kahle  VenjleichiUiy  he- 
(jründet  nimmer  die  wunderhare  Thatsache  der  Schöpfung,  dass 
'sieh  etwas  in  seiner  Veränderuni/  erhalte  und  venvirJcUche.    Das 
Etwas   ist  nur  in   der  einzigen  Beziehung  zum  Anderen  das  An- 
dere ;  real  gefasst,  ist  das  Andere  mit  dem  Etwas  schlechterdings 
nicht'  identisch,  es  geht  also  im  Uebergehen  in  das  Andere  keines- 
wegs mit  sich,  sondern  mit  einem  Etwas  zusammen,  das  nur  in 
einer  gleichen  Wechselbeziehung  mit  ihm  steht,  in  der  nämlich, 
dass  am  Ende  Alles  ein  Etivas   ist  (Log.  Unt.  L  S.  61).    Aber 
auch  in  Absicht   auf   diese   neue    Beziehung  ist  Hegel's   Schluss 
fehlerhaft,   wie  Fischer  (Syst.  d.  Log.  S.  83)  und  Ulrici  (Princip 
etc.  S.  99)  nachgewiesen  haben.     Hegel  selbst  (Philos.  Abhdlgen 
S.  257)  sagt,  erst  wenn  die  Ent(je(fensetzan(j  eine  reelle  ist,  ist 
Eins  ins  Ändere  üherzayehen  fähig.    In  der  That  ist  erst  dieser 
reelle  Uebergang  Veränderung,   bei  Hegel   aber  ist   er  nicht  er- 
klärt, vielmehr  geht  der  Verlauf  ins  Unendliehe  in  gerader  Linie 
fort.'  Das    Unendliehe  bleibt    die    Wiederholung,    die    schleehte. 
Nirgends  biegt  sie  sieh  in  sich  zurück  ....     Die  grossen  Be- 
griffe des  Ganzen   und  der    in   sich  zurückkehrenden  Bewegung 
innerhalb  dieses  Ganzen  sind   durch   eine  solche  hin-  und  her^ 
fahrende  Befle.vion  der  Erkenntniss  auch  nicht  um  ein  Haarbreit 
näher  gebracht.    Das  Beispiel  des  Selbstbetvusstseins  ist  in  seiner 
Beweiskraftlosigkeit  von  Trendelenburg   erschöpfend    klargestellt. 
Ueberdies:   wie   soll    der  Satz  Hegel's  zu  verstehen    sein:    Bcts 
Selbstbewusstsein    bezieht   sich  auf  ein  Anderes?     Wenn  es  auch 
Subjekt    und  Objekt   zugleich  ist,   so  ist  es  doch  immer  ein  und 
dasselbe,    nur  in   verschiedenen  Beziehungen  angeschaut;   es  ent- 
ivickelt  sich  an  dem  Gegenschlag  des  Gegen.standes  und  wird  in 
sich  zurückgeworfen,  d.  h.  von  den  Gegenständen  ausser  ihm,  sie 
auffassend  und  erkennend,  zurückgeworfen,  trifft  es  auf  sich  selbst 
und   setzt  sich  —   ein  unaufzuklärender  Vorgang  —   zu  ihnen  in 
Gegensatz.    Dies  Geheimniss  wird  kaum  jemals  ergründet  werden 
können;  die  Dialektik  bringt  den  suchenden  Geist  hier  auch  nicht 


—    47    -^ 


um  einen  Schritt  voran ;  die  ausgehöhlte  Identität  der  Vergleichung 
ist  auch  hier  so  ohnmächtig  luie  ein  Kind,  das  gegen  den  Sturm 
anspricht. 

Es  folgt  das  Beispiel  von  Nothvvendigkeit  und  Freiheit.  Hegel 
gestattet  sich  hier  die  grössten  Gedankensprünge.  Die  Wirkung 
als  solche  ist  Gesetztsein.  Aber  das  Gesetztsein  ist  zugleich  Un- 
mittelbares, und  indem  die  Ursache  wirkt,  setzt  sie  voraus.  Es 
ist  sofort  klar,  dass  das  Gesetztsein  im  ersten  Falle  etwas  ganz 
Anderes  bedeutet  als  im  zweiten,  wenn  man  nicht  unter  Gesetzt- 
sein die  kahle  Beziehung  des  Vorhandenseins  versteht.  Dann  frei- 
lich setzt  die  Wirkung  das  Vorhandensein  voraus,  und  das  Vor- 
handensein kann  aus  einem  anderen,  nämlich  dem  entgegengesetzten 
Gesichtspunkte  als  das  Unmittelbare  betrachtet  werden.  Soll  aber 
im  ersten  Satze  Gesetztsein  soviel  heissen  als  Gewirkt-,  Hervor- 
gebracht-sein,  so  kann  nicht  fortgefahren  werden:  das  Gesetztsein 
ist  zugleich  Unmittelbares,  denn  es  ist  eben  durch  das  Setzende, 
die  Ursache,  vermittelt.*'^) 

Trendelenburg  hat  sich  mit  der  Erörterung  des  alten  Fehlers 
an  diesem  Punkte  nicht  aufgehalten ,  weil  er  ihn  an  Spitze  und 
Ziel  des  ganzen  Gedankenganges  nachweisen  will.  Aus  jener  halt- 
losen Identität  zwischen  Ursache  und  Wirkung  folgert  Hegel,  dass, 
was  als  zwei  Ursachen  erschien,  an  sich  nur  eine  Ursache  sei, 
und  dass,  was  in  der  Ursprünglichkeit  als  Wirkung  angesehen 
worden,  in  Wahrheit  erst  durch  eine  Gegenwirkung  gesetzt  sei, 
mithin  eine  Ursprünglichkeit  nicht  bestehe.  (Hier  haben  wir  wieder 
das  Ei  und  die  Henne.)  Dieser  reine  Wechsel  mit  sich  selbst  ist 
die  enthüllte  Nothwendigkeit.  Soll  das  enthüllt  den  Hinterge- 
danken haben,  dass  die  Vorstellung  der  Nothwendigkeit  im  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  nur  die  verhüllte  Nothwendigkeit  sei,  so 
mag  das  sein  Wahres  haben.  Die  Bedeutung  der  letzteren  als 
des  Durch-Anderes-bestimmtwerdens  hat  die  des  ersteren  insofern 
in  sich  verhüllt,  als  der  Gedanke  der  Wechselbeziehung  und  des 
progressus  in  infinitum  (vor  dem  Trendelenburg  L  67  mit  Spinoza 
warnt)   hinzutreten  muss,  um  so  Richtung  und  Umfang   der  ur- 


«')  Vgl.  Erdmann,  Grundr.  d.  Log.  §.27  Anm. 


48 


—    49    — 


sprünglichen  Beziehung  nicht  sowohl  zu  verändern  als  zu  erwei- 
tern. Aber  diese  Erweiterung,  dieser  progressus  in  intinitum  trägt 
zum  Verständniss  des  Begriffs  Nothwendigkeit  rein  gar  nichts  bei, 
im  Gegentheil,  er  verdunkelt  ihn,  und  in  diesem  Sinne  ist  die 
enthüllte  die  erst  recht  verhüllte  Nothwendigkeit.  Und  wie  wird 
nun  die  Identität  dieser  Wechselwirkung  und  der  Freiheit  als  des 
Sich-selbst-Bestimmens,  des  Nicht-gewirkt-Seins  hergestellt?  Die 
Substanz  stösst  sich  in  unterschiedene  selbständige  ab ;  da  ja  aber 
diese  wiederum  Substanzen  sind,  so  bleibt  die  Substanz  in  jener 
Wechselwirkung  zwischen  ihr  und  den  (von  ihr  abgestossenen) 
s e  1  b ständigen  •Substanzen  bei  sich  selbst.  Wo  aber  in  aller 
Welt  bleibt  dann  eben  jene  Selbständigkeit  der  abgestossenen  Sub- 
stanzen? Wo  bleibt  mein  eigenes  Selbst,  wenn  meine  Mutter, 
oder  wenn  die  Materie,  die  mich  von  sich  abgestossen,  in  mir  bei 
sich  selbst  bleiben  soll?  Ist  nicht  der  Begriff  des  Selbst  der  der 
allerausschliessendsten  Einzelheit?  Man  kann  Trendelenburg  nur 
beistimmen,  wenn  er  diese  Identität  für  eine  höchst  formale  Gleich- 
stellung erklärt,*^*)  für  die  abstrakteste  Refleocion^  allenthalben 
anwendbar,  wo  sich  etwas  reiß.  In  der  That  besitzt  auch  das  ge- 
knechtete Volk  das,  was  die  Dialektik  an  dieser  Stelle  Freiheit 
nennt.  Denn  es  ist  ebenso  Substanz  als  der  Despot,  der  es 
knechtet,  und  es  giebt  zu  seinen  Fesseln  die  Hände,  zu  seinen 
Ruthenstreichen  den  Rücken  her;  aber  wer  möchte  sagen,  dass 
Jener  in  solchem  Wirken  mit  sich  zusammengehe,  wo  ein  Lud- 
wig XVI.  die  Sünden  seiner  Väter  trug?  Und  auch  da  war  die 
Wirkung  der  Despotie  auf  sich  selbst  eine  sehr  fakultative,   denn 


««)  Erdmann,  Grundr.  d.  Log.,  vertheidigt  die  Identität  bei  Gelegen- 
heit des  Etwas  gegen  den  Vorwurf  eines  ihr  zu  Grunde  liegenden  Sophis- 
mas.  Dasselbe  verschwinde,  sobald  mau  bedenke,  dass  es  sich  um  die 
Gedankenbestimraung  handle,  nicht  um  einen  bestimmten  Gegenstand.  Wo 
in  aller  Welt  wären  dann  aber  zwei  Gedankenbestimmungen,  und  wären  es 
die  heterogensten,  welche  nicht  von  einem  gewissen  Gesichtspunkte  aus 
identisch  wären.  In  der  dünnen  Lvfi  der  Abstraktion,  sagt  Haym  (Hegel 
U.  s.Z.  S.  116),  wird  alsdann  die  wahre  Bestimmtheil  des  Begriffs  unsichtbar 
und  im  'Moment  seines  \  erschicindens  wird  ihm  ein  anderer,  zunächst  ebenso 
unbestimmter  und  unerkennbarer  untergeschoben  u.  s.  w. 


//1 


hat  sie  stets  zu  Revolutionen  geführt?  In  Wahrheit  sind  Herr 
und  Knecht  ganz  heterogene  Substanzen,  wenn  sie  auch  beide  unter 
den  Begriff  Substanz  fallen.  Begriffliche  Einheit  ist  doch  noch 
lange  nicht  Identität.  Mit  Recht  auch  hat  Trendelenburg  gerügt, 
dass  jenes  Mitsichzusammengehen  und  Beisichsein  den  Begriff  der 
bewussten  That  (nicht  wirklich  enthalte;  sondern  nur)  entlocke, 
verdecke  und  verstecke.  Denn  die  bewusste  That  beruht  nicht  auf 
der  Wechselthätigkeit  zwischen  mir  und  dem  Objekt  meiner 
Thätigkeit,  sondern  auf  der  zwischen  meinem  Wissen  und  mei- 
nem Thun. 

Trendelenburg  prüft  endlich  noch  die  Identität  an  dem  Ueber- 
gang  vom  subjektiven  Zweck  zur  Idee.  Wir  folgen  ihm  hier 
nicht  weiter,  einmal  weil  vom  Zweck  noch  besonders  die  Rede 
sein  wird,  dann  aber  auch  weil  es  überflüssig  ist,  die  einmal  auf- 
gestellten Punkte  an  den  einzelnen  Schritten  der  Dialektik  wieder- 
holend durchzunehmen.  Gewonnen  ist  auch  hier  der  Einblick  in 
(Jen  alten  Mangel  der  dialektischen  Methode,  in  die  Verwendung 
verschiedengearteter  (d.  h.  nach  verschiedenen  Richtungen  sich 
äussernder)  Beziehungen  als  gleichartiger  (d.  h.  in  derselben  Rich- 
tung sich  bethätigender); '*^)  mit  Trendelenburg's  Worten:  Jene 
Identität  ist  keine  reale,  nur  eine  logische  der  Refleocion,  keine 
prägnante,  sondern  eine  matte  und  fla^lie,  wie  eine  äusserliche 
Vergleichung ;  keine  wirkliche,  kann  man  hinzufügen,  sondern  eine 
einseitige  und  gemachte. 


Dialektische  und  genetische  Entwickelung. 

Wir  übergehen  die  minder  wichtigen,  zum  Theil  schon  be- 
sprochenen Einwürfe  Trendelenburg's  gegen  den  progressus  in  in- 
finitura,  die  Unmittelbarkeit  und  den  immanenten  Zusammenhang 
und  wenden  uns  einer  Kernfrage  zu:  wie  nämlich  die  dialekti- 
sche und  genetische  Entwickelung  der  Sache  sich  zu  einander  ver- 
halten. 


•*)  Log.  Unt.  II.  S.  62:  In  einer  anderen  Beziehung  ist  etwas  Zweck, 
in  einer  anderen  mehr  Uittcl. 


—     50    — 

Dass  sie  nicht  eins  sind,    findet  Trendelenburg  zuerst  (Log. 
Unt.  I.  79)   und    definirt    mit  Recht  nach  Hegel  die  dialektische 
Bewegung  als  die  Entwickelung ^  ivelche  darin  bestehe,  dass  der 
Gegenstand  nothwendig  die  in  ihm  liegenden  Bestimmungen^^) 
heraussetzen  müsse,     Dass  aber,  wiederum  nach  Hegel,  die  soge- 
nannte   genetische  Bety^achtung   den    Gegenstand  tiiir   darstellest 
soll,  wie  er  aus  den  veranlassenden  Ursachen  hervorgehe, 
das  reizt  seinen  Widerspruch   zu  Gunsten  der  offenbar  herahge- 
drückten   genetischen  Betrachtung.     Vielmehr  stehe  diese  mitten 
in  dem  vollen  Grunde  der  Sache  und  lasse  die  armseligen  ver- 
anlassenden  Ursachen  dahinter.    Weiterhin  (Log.  Unt.  L  81)  wird 
die  dialektische  mit  der  ewigen,  die  genetische  mit  der  zeitlichen 
Entwickelung  gleichgesetzt,  und  hier  ergiebt  sich  denn,  dass  Tren- 
delenburg überhaupt  nur  von   einer  Entwickelung  wissen  will. 
Denn   soll    das   Eivige  in   dieser    Verbindung   das  Nothwendige 
bedeuten    (und  das  soll  es),  so  sei   das  Nothivendige  nur  dann 
energisch  und  also  nothivendig,  wenn  es  das  Zeitliche  regiere  iind 
nicht   dem  Zufall  überlasse.     Sollte  nun  das   Zeitliche    anders 
werden,  so  müsste  für  dies  Verhältniss  im  Ewigen  eine  Bestim- 
mung gefunden  werden,  das  ivürde  sagen:  im  Dialektischen  eine 
Bestimmung  für    das    Genetische.     Dieser    Einwurf   hat    etwas 
Blendendes,  allein   näher  betrachtet,  so  ist  auch  hier  die  Bezie- 
hung des  Werdens  widerrechtlich  in  die  ewige  JCntwickelung  hinein- 
getragen.  Das  Ewige  kennt  kein  Werden,  und  wenn  in  dem  Wort 
Entwickelung  seiner  Abstammung  nach  die  Beziehung  des  Wer- 
dens schlummert,  so  ist  höchstens  das  Wort  unglücklich  gewählt 
oder  die  arme  Sprache  bietet  kein  erschöpfendes.  ® ')    Die  ewige 
Entwickelung  ist  nur  insofern  eine  solche,  als  sie  nur  stufenweise 
unserm  endlichen  Verständniss  sich  klar  machen  kann;  an  sich 
ist  sie  die  ewig  feststehende  Welt  der  ewigen  Beziehungen  und 
Begriffe,  von  denen  sich  schlechterdings  keiner  in  Wahrheit  aus 

••)    Was  in  der  Sache  selbst  liegt.    Erdm.,  Gr.  d.  Log.  §.  18. 

^')  Erdmann,  Gr.  d.  Log.  §.  17  Anm.  4  u.  5:  Der  Begriff  der  Ewig- 
keit, den  schon  Spinoza  richtig  gefasst  hat,  hat  mit  der  Zeit  gar  keine 
Verwandtschaft.  Achnlich  spricht  die  Mathematik  ton  dem,  was  (nicht  zeit- 
lich genommen)    aus    dem  Früheren   folgt  und  meint  dabei  das  ewige  Folgen. 


—    51     — 

dem  anderen  entwickelt.  Der  ewige  Ursprung  des  Staates  ist 
gar  kein  wirklicher  Ursprung;  er  liegt  in  der  sittlichen  Natur  des 
Menschen,  heisst  nichts  weiter  als:  er  ist  mit  ihr  zugleich;  sie 
stehen  und  fallen  zusammen;  die  sittliche  Natur  ist  nicht  etwa 
früher  (was  zum  wahren  Ursprung  des  Staates  nothwendig  wäre), 
sondern  sie  ist  zugleich  mit  dem  Staate,  sie  ist  selbst  seine  ewige 
Existenz.  Der  zeitliche  Staat,  dieses  sterbliche  Ding,  ist  ein  ebenso 
begrenztes,  schwankendes  und  problematisches  als  die  sittliche 
Natur  der  zeitlichen  Menschen,  unter  denen  sich  die  grössten 
Bösewichter  und  die  auch  moralisch  beschränktesten  Völker  finden. 
Wäre  die  zeitliche  Sittlichkeit  der  ewigen  gleich,  so  gäbe  es  frei- 
lich keine  Räubereien,  aus  denen  der  zeitliche  Staat  entstehen 
könnte,  und  er  wäre  dann  zugleich  mit  der  Menschheit  vorhanden. 
Dass  er  nicht  vorhanden  war,  ja  stellenweise  noch  ist,  beweist, 
dass  er  bedingender  und  veranlassender  Ursachen  bedarf;  und 
wenn  er  immer  und  überall  aus  derselben  That  des  Sittlichen 
entsprang,  warum  ist  er  so  verschiedenartig  ausgefallen  und  hat 
sich  in  den  äussersten  Extremen  der  Freiheit  und  der  Knecht- 
schaft bewegt?  Beweist  aber  dies  Alles  nichts,  so  verfolge  man 
eine  Gedankenreihe,  die  Trendelenburg  selbst  anderwärts  (L.  Unt 
n.  20)  angesponnen  hat.  Da  wird  der  Staatskörper  seinen  Glie- 
dern entgegengesetzt;  da  heisst  es  ausdrücklich,  dass  das  Ganze 
früher  sei  als  die  Glieder;"^)  dass  diese  nur  im  Gsinzen  Bestand 
und  Leben  haben.  Wie  denn  aber?  Kann  der  zeitliche  Staat 
früher  sein  als  seine  Glieder,  die  zeitlichen  Menschen?  Nimmer- 
mehr; es  kann  also  nur  von  dem  ewigen  Staat  und  seinen  ewigen 
Gliedern  die  Rede  sein.  Da  hätten  wir  denn,  uns  ganz  der  con- 
creten  Betrachtungsweise  Trendelenburg's  anfügend,  nichts  Anderes, 
als  was  Hegel  behauptet:  in  der  ewigen  Entwickelung  ist  der 
Staat,  das  Ganze,  auch  das  prius,  in  der  genetischen,  zeitlichen 
sind  es  die  Einzelnen,  die  Glieder.  In  Wahrheit  freilich  ist  das 
ewige  Ganze  nicht  früher,  sondern  zugleich  mit  seinen  Theilen, 
was  die  aristotelische  Ausführung  a.  a.  0.  nicht  nur  nicht  umstösst, 
sondern  geradezu  bestätigt.    Aristoteles  ist  mit  seinem  früher  hier 


'  8)  Speziell  vom  Staate  sagt  dies  schon   Aristoteles  Polit.  L  2. 


—    52 


—    53 


ebenso  einseitig  als  Roscellin.  Und  warum  —  dies  fällt  von  Neuem 
auf  —  warum  ist  das  Beispiel  Trendelenburg*s  vom  Staat  das 
einzige  nicht  aus  der  Mathematik  entlehnte?  Einfach,  weil  die 
Mathematik  in  der  Schwierigkeit  eben  der  Entwicklung  ihrer  Be- 
griffe die  bequemste  Brücke  bot,  ewige  und  zeitliche  Entwickelung 
zu  confundiren.  Wir  haben  gesehen,  dass  die  sogenannte  Ent- 
stekumj  z.  B.  der  geometrischen  Grössen  gar  keine  wirkliche  Ent- 
stehung ist.  In  Wahrheit  sind  vielmehr  diese  Grössen  da,  ohne 
sich  von  einander  ableiten  zu  lassen.  Das  letztere,  wahre  Mo- 
ment haben  sie  mit  der  dialektischen,  das  erstere  hätten  sie  mit 
der  genetischen  Entwickelung  gemein.  Aber  diese  Identität  einer 
Wahrheit  und  eines  Wahnes  beweist  nichts  für  die  beiden  Ent- 
wickelungsmethoden. 

Es  zerfiele  mit  dem  Nachweis,   dass  die  ewige  Entwickelung 
Entwickelung  nur  heisst,  nicht  ist.  Alles,  was  Trendelenburg  da- 
gegen sagt,  in  Nichts,   wenn  man  nicht  einwenden  könnte,   dass 
unter  dialektischer  Entwickelung  ja  auch  eben  jener  allmähliche 
Weg  verstanden  sein  könne,  auf  dein  die  ewige  Welt  der  Begriffe 
dem   sterblichen  Geist   sich  verständlich   macht  ;'^«)   allein   auch 
dieser  Weg  müsste  nach  Trendelenburg  der  genetischen  Entwicke- 
lung parallel  gehen.     Indess :  er  thut  es  nicht.     Die  Wirklichkeit 
besteht  durch  ein  untrennbares  Ineinander  der  Substanzen,  Acci- 
dentien,  Begriffe  und  Beziehungen,   deren    fortwährendes  Trennen 
und  gewaltsames  Auseinanderhalten  das  Denken  ist;'")  von  den 
sterblichen,  fehlerhaften,  unvollkommenen  Dingen  aus  schwingt  sich 
das  Denken   zu   dem  ewigen  Begriff  auf,   der  sich  in  ihnen  ent- 
äussert hat,  ihr  Vater  ist,  als  Urbild  sie  als  seine  Abbilder  er- 
zeugt. ^^)    Der  ewige  Staat  war  früher  als  die  endlichen,  sie  sind 
nur   seine    theilweisen   Verwirklichungen;    aber    welches  Denken 
wusste  etwas  vom  Begriff  des  Staates,  diesem  ewigen  Staate,  ehe 
Anschauung  und  Vorstellung  mit  seinen  endlichen  Schattenbildern 
vertraut   geworden  waren?     Trendelenburg  verargt   es   der  Dia- 

"•)  Ausgesprochen   schlägt  Trendelenburg's   üntersuchuDg    in    diese 
frage  um  Log.  Unt.  I.  88. 

'•)  Haym,  Hegel  u.  s.  Z.  S.  314. 

'*)  Log.  Unt.  I.  S.  ^  Anui.  3. 


^* 


jektik  (L  85),  dass  sie  das  Ethische  vor  dem  Göttlichen  d.  h. 
ohne  dasselbe  betrachte.  Es  ist  der  alte  Vorwurf.  ^^^  ^^^  Gött- 
liche früher  oder  das  Ethische?  Oder  sind  beide  zugleic^^*?  Wenn 
aber  in  der  Endlichkeit  das  Göttliche  früher  als  das  Ethische 
war,  wo  kam  es  her  ?  Doch  aus  der  Offenbarung, ' ' )  cum  grano 
zu  verstehen.  Und  an  wen  hat  sich  diese  sfewandt?  Doch  nicht 
an  das  Denken,  sondern  an  den  Glauben,  d.  h.  an  das  Gefühl. 
Im  Gegentheil  hat  das  Denken  immer  mit  der  Offenbarung  im 
Kriege  gelegen.  Aber  wie  kann  das  Denken  zum  Göttlichen  ge- 
langen? Einzig  und  allein  mit  Hülfe  der  Ethik.  Wenn  die  Ge- 
sinnung, so  folgert  das  Denken,  aus  alledem  nicht  stammt,  was 
ich  bis  hierher,  bis  zum  Bewusstsein  von  der  Gesinnung,  mir  selbst 
erschlossen  habe,  so  muss  Etwas  sein,  das  aller  Schlüsse  spottet; 
von  dem  ich  nichts  weiter  schliessen  kann,  als  dass  es  ist,  und 
dass  meine  Gesinnung  von  ihm  herstammt.  Dies  nennen  wir  das 
Göttliche.  Die  ganze  Natur  redet  so  deutlich  nicht  von  ihm,  als 
der  Fnnke  davon  in  der  eigenen  Brust.  Seiner  ist  auch  das 
Denken  gewiss  und  nur  vom  Gewissen  aus  (in  schönem  Doppel- 
sinn des  Wortes)  kann  es  einen  Blick  ins  Ungewisse  wagen.  Denn 
wenn,  wie  Trendelenburg  (L  86)  sagt,  das  Denken  voraneilt  und 
in  der  Auffassunff  Gottes  seinen  tiefsten  und  heiligsten  Gegen- 
stand hat^  so  fragt  man  billig,  wem  es  voraneilt?  Sich  selbst  — 
und  wie  will  es  in  die  tiefsten  Tiefen  dringen  ohne  durch  das 
Seichte  zu  gehen?  Und  ohne  dem  Glauben  ins  Handwerk  zu 
pfuschen  ?  Um  im  Handeln  ganz  zu  sein  und  sein  ganzes  Wesen 
abzudrücken,  mag  der  Mensch  immerhin  dieses  oder  jenes  nöthig 
haben;  aber  hier  ist  nicht  vom  Handeln  die  Rede,  sondern  vom 
Denken  und  vom  Sein.  Die  Logik  sucht  keinen  ethischen  Kanon, 
sondern  Wahrheit  und  Erkenntniss. 

Dass  freilich  HegeFs  Entwickelung  und  Erklärung  des  Sitt- 
lichen nicht  genüge,  darin  wird  man  mit  Trendelenburg  ohne 
Zögern    übereinstimmen.^*)     Aber   welche  Philosophie  wird   eine 


A\ 


'^)  Wie  immer  die  Religionen  entstanden  sein  mögen,  der  Glaube 
der  Völker  bat  sie  stets  auf  Offenbarung  zurückgeführt.  Ein  interessantes 
Heispiel  vgl.  man  b.  Plato,  Protag.  S.  322  C. 

")   Denn   wenn    mein  Denken  das    allein  für   mich  Verpflichtende  ist 


—    54    — 


-    55    — 


genügende  dafür  finden?  Auf  keinem  philosophischen  Felde  ist 
der  Streit  der  Meinungen  so  umfassend,  so  heiss  und  hoffnungs- 
los.^*) Das  Sittliche  wird,  inwiefern  es  ausschliesslich  Sache  des 
Gefühls  ist,  dem  Denken  immer  unübersteigliche  Grenzen,  ent- 
gegenstellen. Nur  zugleich  mit  dem  Göttlichen  ist  es  zu  erken- 
nen, und  wird  die  Philosophie  jemals  in  das  Wesen  des  Göttlichen 
einzudringen  vermögen  ? 

Noch  haben  wir  einen  Einwurf  abzufertigen,  der  allerorten 
gegen  die  Hegeische  Philosophie  besonders  betont  wird,  und  der  sich 
gegen  die  Parallelisirung  des  dialektischen  Ganges  mit  demjenigen 
der  Geschichte  der  Philosophie  richtet.  In  der  That  ist  diese 
Parallelisirung  leicht  zu  widerlegen;  in  der  That  ist  sie  von  Hegel 
behauptet,  ja  ihre  Durchführung  versucht  worden.  Aber  was  will 
das  weiter  sagen  ?  Das  Princip  Hegel's,  dass  die  ewige  Entwicke- 
lung  einen  anderen  Gang  gehe  als  die  zeitliche,  ist  dadurch  nicht 
widerlegt,  vielmehr  bestätigt.  In  Wahrheit  ist  jener  Parallelisi- 
rungsversuch  nicht  sowohl  eine  Anwendung  des  Grundprincips  als 
vielmehr  geradezu  ein  Abfall  davon.  ^^)  Die  Inconsequenz,  an 
einer  Stelle  Gleichmässigkeit  nachweisen  zu  wollen,  wo  durchweg 
Ungleichmässigkeit  herrschen  soll,  war  wohl  als  Inconsequenz  zu 
rügen,  aber  das  Princip  erschüttert  sie  nicht. 

Es  muss  dabei  verbleiben  (und  dies  modificirt  die  Erörterun- 
gen Log.  Unt.  I.  89  ff.),  dass  Trendelenburg  nur  Recht  behält, 
wenn  die  dialektische  Entwickelung  der  Begriffe  den  Weg  bezeich- 
nen soll,  den  der  menschliche  Verstand  durch  die  Welt  der  Begriffe 
einzuschlagen  hat;  wenn  Erkenntnisse  a  priori  solche  sein  sollen, 
die  in  unserem  Verständniss  der  Erfahrung  voraufgehen;  hat  aber 

(Hegel,  Phil.  d.  Rechts  §.  136),    so  ist  Sittlichkeit   höchstens  vom  i^hilo- 
sophen  zu  fordern  und  zu  erwarten. 

'*)  Vgl.  V.  Kirchmann,  Grundbegr.  d.  Rechts  u.  d.  Moral.  Phil.  Bibl. 
Bd.  Xr.  und  das  Princip  des  Sittlichen  in  Lindau's  Gegenwart.  Jahrj^.  1873 
Nr.  32  ff.  Ob 

'»)  Die  Methode  ist  offenbar  sich  seihst  untreu  gatorden,  Ulrici,  Prin- 
cip u.  s.  w.  S.  78.  Ein  Abfall,  der  freilich  in  der  Quelle  der  Hegeischen 
Philosophie  aus  Hegel's  eignem  Geiste  seine  Begründung  hat  nach  Haym's 
uborzeugeiideiu  Nachweis,  Hegel  u.  s.  Z.  S.  320  ff. 


'^ 


Hegel,  wie  ich  ihn  verstehe,  unter  der  Dialektik  nur  den  Kreis 
der  Beziehungen  und  Begriffe  verstanden,  der  in  sich  durch  ein 
ewiges  und  unabänderliches  Verhältniss  seiner  Glieder  zu  einander 
geschlossen  ist,  das  Denken  mag  sich  ihm  nun  nähern,  von  wo 
aus  es  wolle;  hat  er  mit  Erkenntnissen  a  priori  Erkenntnisse  von 
Begriffen  bezeichnen  wollen,  die  früher  sind  als  wir  sie  Begreifen- 
den ; ' ' )  ist  die  vermeintliche  Bewegung  in  seiner  Methode  nur  ein 
durch  unser  beschränktes ,  von  Begriff  zu  Begriff  fortkletterndes 
Verständniss  hinzugebrachtes  Aeusserliche ,  so  fällt  dieser  Vor- 
wurf Trendelenburg's  wie  die  übrigen,  jenen  ausgenommen,  der 
die  auf  äusserliche  und  ungleichartige  Beziehungen  gegründeten 
Consequenzen  für  nichtige  erklärt. 

Der  Zweck. 

Der  Zweckbegriff  darf  die  Spitze  unserer  Erörterungen  bilden, 
weil  in  ihm  Trendelenburg  und  Hegel  sich  begegnen.  Wir  haben 
gesehen,  dass  Hegel  von  den  Kategorien  nichts  wissen  will,  auf 
denen  Trendelenburg\s  ganzes  Philosophiren  beruht;  umgekehrt  er- 
gab sich,  dass  Trendelenburg  der  Hegeischen  Dialektik  ihre 
Hauptstützen  so  zu  sagen  unter  den  Händen  wegzuziehen  versucht 
hat.  Den  Zweckbegriff  dagegen  erkennen  beide  als  wirklich,  we- 
sentlich und  wichtig,  wie  sehr  auch  immer  Trendelenburg  gegen 
HegeFs  Ableitung  desselben  polemisiren  möge;  denn  es  kommt 
dabei  auf  die  Strenge  der  Ableitung  und  nicht  auf  den  Schein 
des  Ergebnisses  an,  des  Ergebnisses,  in  dessen  Statuirung  sich 
eben  Hegel  und  Trendelenburg  die  Hand  reichen. 

Um  jene  Polemik  kritisch  zu  betrachten,  genügt  es,  die 
Hauptpunkte  aus  Hegel's  Ableitung  des  Zweckes  herauszugreifen. 
Blosse  Ursache  und  Zweck  stehen  sich  als  Erzeugende  gegenüber ; 
dies  macht  sich  zunächst  im  Chemismus  geltend  (L.  U.  H.  57), 
wo  sich  Stoffe   zu  einer  höheren  Bildung  verbinden.     Die  Frage 


A 


"*. 


'«)  Dann  bezeichnet  in  der  That  der  ganze  Kreislauf  der  Dialektik 
Erkenntnisse  a  priori  (Log.  ünt.  l.  90)  und  da  ist  nichts  Widersinniges. 
Vgl.  AI.  Schmidt,  Beleuchtung  u.  s.  w.  S.  114. 


—    56    — 

entsteht:   ist   der  Begriff  dieser  höheren  Bildung  bei   seiner  Er- 
zeugung  mit  thätig  oder  nicht?  Jm  ersten  Falle  würde  der  Che- 
mismus schon  ein  teleologischer  sein,  und  der  Zweck  müsste  sich 
schon  im   Uebergang   vom    Mechanismus   zum  Chemismus   linden. 
Im    zweiten  Falle    ist    gar  kein  Zweck   ersichtlich,    sondern  der 
neue  Begriff  ist  aus  der  blossen,  blinden,  veranlassenden  Ursache 
hervorgegangen.    Dass  der  Chemismus  ein  teleologischer  sei,  kann, 
wie  Trendelenburg  bemerkt,  He^/efs  Ansieht  nicht  sein;  auch  ist 
es  sonst  nicht  Ansicht  der   Wissenschaft.     Man  muss  ihm  darin 
beistimmen,   aber   es   wird  sich  bald  zeigen,    dass  Trendelenburg 
damit  seinem  eigenen  Zweckbegriff  den  Todesstoss  versetzt.    Denn 
freilich:    indem  Prozesse   in   Produkte   und  Produkte   in  Prozesse 
übergehen    und    so    fort    bis   in's   Unendliche,    so    mag  man   von 
dieser  l^eobachtung  aus  als   einer  Warte  nach  allen  Seiten  aus- 
schauen:   der  Zweck   kommt  nicht  zum    Vorschein;    denn    dazu 
müsste   dargethan  werden,   dass  ein  Produkt  in  den  Prozess  um- 
schlage,   welchem    es    selbst    sein   Dasein    verdankt;    wenit^stens 
müsstenund  würden  die  logischen  Untersuchungen  sich  hier- 
mit begnügen.    In  der  That  läuft  also  der  unendliche  Prozess  des 
Chemismus   haltlos  fort.     Aber    wenn    nun    auch   irgendwie   das 
Trendelenburgsche  Postulat  hineingebracht   würde,   wenn  wirklich 
ein  Produkt   sich  fände,   welches  der  Prozess  seiner  eigenen  Er- 
zeugung  wäre,   ist   denn   damit  der  Zweckbegriff  erschöpft?  Ist 
er  mit  Trendelenburg's  Erklärung  erschöpft,  dass  er  die  Wirkung 
als  Ursache  ihrer  selbst  sei?    Das  wird  sich  entscheiden,    wenn 
wir  den  vermeintlichen  Unterschied  zwischen  innerem  und  äusserem 
Zweck  betrachten,   den  Trendeleoburg  für  das  Zwischenglied  der 
Dialektik  zwischen   Chemismus    und    Organismus    ausgiebt.      Wie 
soll  sich,  so  fragt  er  (L.  U.  IT.  59),  aus  der  Negation  des  Che- 
mismus der   äusserliche,    d.  h.   der    menschliche  Zkveck  hervor- 
hilden?     Die  Frage  ist  überflüssig;    sie  hat  nur  den  Werth,  das 
Heterogene  der  allgemeinen  physikalischen  Erscheinungen  mit  dem 
Zweckbegriff  für  die  unmittelbare  Auffassung  in  seiner  schärfsten 
Steigerung  zu  zeigen;    wenn   dann    zum    äusseren  Zweck  fortge- 
schritten wird,  so  wird  sich  bald  ergeben,  dass  eine  solche  Spal- 
tung des  Zweckbegriffes   eine  rein  willkürliche  ist.     Zwar:    dieser 


■^ 


—    57    — 

sogenannte  äussere  Zweck  schwebt  allerdings  bei  Hegel  ebenso- 
sehr in  der  Luft  als  der  innere,  die  Idee.  Jener,  weil  in  der 
That  der  Begriff  einmal  subjektiv,  als  Denkform  im  Denken  nur 
des  Individuums,  dann  aber  als  der  objektive  unendliche,  über 
den  Individuen,  dem  Denkenden  ebenso  hoch  als  über  der  Sache, 
dem  Angeschauten  und  Vorgestellten,  schwebende  gedacht  wird. 
Wenn  wir  auch  dem  letzteren  unbedingte  Macht  über  die  ihm 
gegenüber  selbstlosen  Objekte  mit  Hegel  zugestehen  wollten,  so 
folgt  nicht  dasselbe  für  den  subjektiven,  obwohl  es  immer  noch 
consequenter  erscheint,  wenn  ein  endlicher  Begriff  zu  endlichen 
Objekten  in  Beziehung  tritt,  aus  denen  er  notorisch  geflossen  ist, 
als  der  unendliche,  von  dem  wir  nur  gleichsam  schliessend  ahnen, 
dass  er  an  der  Entstehung  der  Objekte  betheiligt  sei.  In  jedem 
Falle  ist  hier  in  Hegel's  Gedankenfortschritt  eine  Lücke,  die 
Trendelenburg  mit  Recht  rügt. 

Und  nun  die  Idee,  der  innere,  den  Erscheinungen  immanente 
Zweck?  Sie  fusst  auf  dem  Begriff,  und  es  ist  bereits  dargethan, 
auf  wie  schwachen  Füssen  dieser  steht.  Er  soll  das  Beisichbleiben 
der  Substanzen  im  Uebergehen  in  andere  und  in  der  Wechsel- 
wirkung mit  anderen  Substanzen  sein.  Wir  wissen  schon,  dass 
dieses  Beisichbleiben  ein  Wahn  ist,  ein  ganz  erfundenes  und  ge- 
machtes Wiederfinden  des  Begriffes  in  der  Sache,  welches  für  die 
Erkenntniss  nicht  nur  unfruchtbar,  sondern  überhaupt  gar  nicht 
einmal  nöthig  ist.  Denn  dass  der  Begriff  sich  selbst  in  der  Sache 
wiederfinde,  ist  blos  eine  eigenthümliche  Wendung  unserer  Sprache, 
aber  gar  kein  logisches  Postulat.  Sein  Sein  in  den  Dingen  ist 
sein  ganzes  erschöpftes  Sein,  ohne  Dinge  ist  er  nicht,  und  ewig 
kann  er  nur  genannt  werden,  insofern  man  ein  ewiges  Vorhanden- 
sein von  Dingen  annimmt.  Vielmehr  beruht  sein  Wesen  darin, 
dass  wir  (die  wir  ja  auch  als  Gattung  ewig  sind)  ihn  in  den 
Dingen  wiederfinden.  Indessen  sei  dem,  wie  ihm  wolle;  allewege 
ist  unerfindlich ,  wie  jene  vage  Verdünnung  des  Begriffes  in  eine 
leere  Beziehung  zu  der  Macht  über  den  Inhalt  des  Daseins  ge- 
lange, die  der  Zweckbegriff  ipvolvirt.  Denn  wenn  wir  nicht  Zweck 
und  Begriff  (wie  Hegel  ja  auch  nicht  will)  vollständig  identificiren, 
so  mag  .der  Begriff  Baum  sich  herleiten,  woher  er  wolle,  er  wird 


—    58    — 

nimmer  aus  sich  selbst  zu  einem  wirklichen  Baum  sich  realisiren 
können;  und  könnte  er  es  auch,  so  ist  selbst  damit  nicht  er- 
wiesen, dass  der  Baum  mittels  des  Zweckes,  nicht  blos  der  wir- 
kenden Ursache  erwachsen  sei.  Denn  der  Begriff  als  Denkform 
ist  dem  Zweck  als  einer  Denkthätigkeit  (siehe  unten)  ebenso 
heterogen  als  etwa  das  plus  und  minus  dem  thätigen  Rechnen. 
Schliesslich  vollendet  sich  der  Zweck  bei  Hegel  zur  Idee,  d.  h. 
zum  Selbstzweck,  indem  der  erreichte  Zweck  wiederum  Mittel 
wird.  Das  Leere  dieser  Ableitung  ist  schon  zur  Sprache  gekommen: 
in  einer  anderen  Beziehincf  Ist  etwas  Mittel,  in  einer  anderen 
Zweck,  Selbstzweck  aber  bedeutet  Zweck,  der  sein  eigenes  Mittel, 
und  Mittel,  das  sein  eigener  Zweck  ist.  Hiervon  hat  Hegel  nichts 
erwiesen,  und  seine  Idee  ist  nicht  Idee  in  dem  versprochenen 
Sinne. 

Allein,  wie  schon  angedeutet,  Trendelenburg's  eigener  Zweck- 
begriff ist  keineswegs  unanfechtbar.  Denn  der  Zweck  ist,  wie 
schon  Spinoza  behauptet'')  und  Kant  erwiesen  hatte,  mehr  als 
blos  die  Wirkung  als  Ursache  ihrer  selbst;  und  es  lässt  sich 
zeigen,  dass  die  Trennung  eines  äusseren  und  inneren  Zweckes 
nicht  zu  Recht  besteht,  und  dass  auch  Trendelenburg's  Zweck- 
begriff nicht  mit  der  Macht  ausgestattet  ist,  die  er  am  Hegeischen 
vermisst,  mit  der  Macht  über  den  realen  Inhalt  des  Daseins. 

Die  Wirkung  als  Ursache  ihrer  selbst  ist  nämlich  deshalb 
noch  nicht  Zweck,  weil  sie  noch  nicht  das  bewusste  Wirken  in- 
volvirt.  Die  blosse  Ursache,  und  wenn  sie  tausendmal  sich  selber 
wirkt,  hört  darum  doch  nicht  auf,  blosse  Ursache  sein;  erst  wenn 
sie  mit  Bewusstsein  vom  Resultate  ihrer  Wirkung  wirkt,  wird  sie 
zum  Zwecke.  Darum  ist  der  Zweck  an  das  Wissen  und  Denken 
und  mit  diesem   an   das   wissende  und  denkende  Individuum  ge- 


")  Spinoza,  Eth.  Pars  I.  App.  (I.  S.  219  ed.  Bruder).  Ich  sage:  be- 
hauptet, weil  Spinoza  seinen  Beweis  auf  die  so  luanuichfach  angefochtenen 
Grundsätze  seines  Systems  zurückführt  (vgl.  z.  B.  haec  docirina  Dei  per- 
fecUonem  Ivliil;  nam  si  Dens  prupter  ßuem  agit,  nliquid  necessnrio  appelil 
quo  caret);  während  Kant  nur  an  den  allgemeinen  Menschenverstand 
appellirt. 


A^:* 


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—    59    — 

bunden. '®)  Ein  frei  für  sich  seiender  Zweck  ist  ebensosehr 
ein  Widersinn  als  ein  frei  für  sich  seiender  Gedanke,  von  dem 
Trendelenburg  L.  U.  II.  58  spricht.  Ein  Gedanke  hat  nur  Re- 
alität, soweit  er  gedacht  wird,  ein  Zweck ,  nur  soweit  bezweckt, 
d.  h.  denkend  gewirkt  wird.  Der  Zweck  ist  unablöslich  an  die 
Erfahrung  gekettet.  ^^)  Ich  verfolge  einen  Zweck  mit  diesen  oder 
jenen  Mitteln  nur,  weil  und  wenn  mich  die  Erfahrung  belehrt  hat, 
dass  diese  Mittel  als  Ursachen  diesen  Zweck  als  Wirkung  schon 
früher  hervorgebracht  haben.  Verfehlte  Zwecke  lassen  immer 
mit  Sicherheit  auf  einen  Mangel  in  der  Erfahrung  schliessen; 
ihre  Grenzen  sind  gemeinschaftlich.  Aber  nach  Hegel  und  Tren- 
delenburg kann  es  gar  keine  verfehlten  Zwecke  geben,  weil  sie 
von  einer  solchen  Beschränkung  der  Macht  des  Zweckes  nichts 
wissen  wollen.  Der  Zweck  ist  also  in  der  That,  wie  Kant  sagt, 
von  uns  entlehnt,  eine  subjektive  Denkform,  die  wir  erst  in  die 
Welt  der  Erscheinungen  hineintragen.  ®  °)  Damit  erschliesst  sich 
auch  die  Willkürlichkeit  der  Scheidung  des  Zweckes  in  einen 
inneren  und  äusseren.  Aus  unserer  Erfahrung  haben  wir  den 
Zweckbegriff  entlehnt  und  tragen  ihn  nun  als  inneren  in  die 
Schöpfung  hinein,  ohne  zu  bedenken,  dass  er  dort  gar  keine  Er- 
fahrung zum  Grunde  haben  kann,  man  mag  sie  vom  pantheistischen 
oder  monotheistischen  Standpunkte  aus  betrachten.  Das  Auge 
erscheint  uns,  wie  Trendelenburg  Log.  Unt.  II.  2  ff.  so  schön 
ausführt,  als  das  par  excellence  zweckmässige  Organ;  aber  warum? 


"">)  Der  Ztceck  urs/irünglich  Gedanke.  Ulrici ,  Syst.  d.  Lüg.  S.  409. 
Warum  ursprünglich?  Nicht  schlechthin?  (S.  406  ff.)  —  Das  Denken  kommt 
lum  Vorschein,  der  alte  Meister,  dem  am  Ende,  damit  er  die  Beiregmig 
regiere,  mit  dem  Begriffe  des  Zweckes  die  Zügel  anvertraut  werden.  Fischer, 
Syst.  d.  Log.  §.  66,  6.  Kant,  Kritik  der  Urtheilskraft  S.  62  (d.  Kirchm. 
Ausg.)  verlangt  den  Begriff  eines  Willens  und  behandelt  (^S.  265)  die 
Epitheta  nach  Zwecken  handelnd  und  verständig  als  gleichbedeutend. 

'•)  Hegel,  Encykl.  §.  21  Zus.:  dabei  (bei  den  Zwecken)  denken  icir 
darüber  nach,  wodurch  wir  dieselben  erreichen  können .  Der  Z,weck  ist  hier 
das  Allgemeine,  das  Regierende,  und  wir  haben  Mittel  und  }yei'kzeuge,  deren 
Thäligkeit  wir  nach  dem  Zwecke  bestimmen.  Vgl.  Hobbes,  on  human 
nature  cap.  4. 

«")  Kritik  d.  Urtheilskraft  S.  21,  32  u.  sonst. 


—    60    — 

Bios  weil  wir  kein  besseres,  zweckmässigeres  kennen.  Ist  damit 
gesagt,  dass  es  nicht  in  Wirklichkeit  noch  zweckmässiger  sein 
könnte?  Kant  drückt  dies  so  aus:  wie  wir  die  Möglichkeit  einer 
solchen  Causalitüt  der  Natur  nach  ZivecJcen  f/ar  nicht  a  priori 
einsehen  können,  so  können  wir  eigentlich  auch  nicht  die  Zwecke 
in  der  Natur  als  absichtliche  beobachten.  ^  * )  Denn  es  fehlt  der 
denkende  Geist,  der  dort  bezweckte  oder  beabsichtigte.  Wer 
wollte  denn  eine  gewusste  Wirkung  hervorbringen,  als  das  Auge 
erzeugt  wurde?  Man  sage  nicht:  Gott.  Denn  dann  sind  wir  auf 
dem  längst  als  unhaltbar  erkannten  Standpunkt  des  teleologischen 
Beweises  für  das  Dasein  Gottes  angelangt.  (Auch  schlagen  hier 
für  den  so  Antwortenden  die  Gegengründe  Spinoza's  ein.)  Die 
Philosophie  weiss  zunächst  nichts  von  Gott,  und  mag  der  Glaube 
über  solche  Gottlosigkeit  zetern,  so  darf  und  muss  sich  die  Philo- 
sophie darüber  hinwegsetzen.  Thatsache  sind  gewisse  Beziehungen 
in  der  Natur,  Wirkungen  aus  gleichen  Ursachen,  die  zu  gleichen 
Wirkungen  dienen ;  es  wiederholt  sich  wie  in  unserer  beschränkten 
Erfahrungswelt.  Aber  wenn  wir  hier  diese  Erscheinung  als  Zweck 
bezeichnen  dürfen,  ist  es  mehr  als  eine  blosse  Analogie,  wie 
Kant  sagt,  sie  auch  dort  als  solchen  zu  betrachten?  Und  woher 
nimmt  denn  nun  der  Zweck  seine  Macht?  Wie  ist  er  im  Stande 
eine  Wirkung  zu  erzeugen,  die  er  als  gewirkt  vorher  anschaute? 
Einfach:  seine  Macht  ruht  lediglich  in  seinem  Wissen;  sie  ist 
also  gar  keine  Macht.  Die  Verbindung  der  wirkenden  Ursachen  und 
Mittel  ist  Sache  anderer  Kräfte,  sein  Zuthun  besteht  nur  in  dem 
Wissen,  dass  diese  Mittel  und  keine  anderen  zu  dieser  Wirkung 
beitragen.  In  Wahrheit  sind  nicht  die  Mittel  dem  Zweck  unter- 
than,  sondern  umgekehrt:  der  energische  Zweck  ist  machtlos,* 
wenn  ihm   die  Mittel  fehlen.     Darum  bleiben  so  viele  Zwecke  so 


**)  So  citirt  Trendelen  bürg.  Ich  habe  nur  eine  ähnlich  lautende 
Stelle  auffinden  können:  Krit.  d.  Urth.  S.  278.  Sie  lautet:  denn  da  trir  die 
/jicccke  in  der  Malur  als  ahsiciäluhe  nicht  eigentlich  beobachten,  sondern 
nur  in  der  Ruflexion  über  ihre  Produkte  diesen  Begriff  als  einen  Leitfaden  der 
Urlheifskrafl  hinzu  denken,  so  sind  sie  tins  nicht  durch  das  Objekt  gegeben. 
A  priori  ist  es  sogar  für  uns  unmöglich,  einen  solchen  Begriff,  seiner  ob- 
jektiven Healilät  nach,  als  annehmung s fähig   zu  rechtfertigen  u.  s.  w. 


—    61     — 

weit  hinter  ihrer  völligen  Verwirklichung  zurück,  obgleich  sie  im 
Vollbesitz  jener  abstrakten,  nur  scheinbaren  Macht,  des  Wissens 
um  die  nothwendigen  Mittel,  waren;  sie  bleiben  zurück,  weil  die 
Mittel  rebellirten,  und  gegen  diese  Auflehnung  die  sogenannte 
Macht  des  Zweckes  völlig  machtlos  ist.  Und  dies  richtet  sich 
noch  mehr  gegen  den  inneren  Zweck;  dort  auch  begegnet  einer 
hemmend  und  aufhebend  dem  anderen,  und  wenn  dies  geschieht, 
ist  es  auch  Zweck?  Oder  ist  die  Schwäche  der  Endlichkeit  an 
diesem  Punkte  —  wer  kann  sagen,  wie?  —  in's  Gebiet  des 
Ewigen  übertragen?     Unlösbare  Widersprüche! 

Freilich:  das  Gefühl  sagt  sich  schwer  von  manchem  Ideale 
los,  welches  der  Gedanke  vernichtet.  Herz  und  Verstand  liegen 
in  ewigem  Streite,  aber  im  Reiche  der  Logik  führt  der  Gedanke 
das  Wort.  Was  vor  seinem  Richterstuhle  nicht  Stich  hält  — 
mag  es  die  Menschheit  trösten  und  erfreuen  —  Erkenntnisswerth 
und  logische  Wahrheit  hat  es  nicht. 

* 

Wenn  wir  zurückblickend  uns  der  Ergebnisse  unserer  Er- 
örterung erinnern,  so  schliessen  wir  uns  an  Trendelenburg  überall 
da  an,  wo  er  die  dreifache  Achillesferse  der  Dialektik  angreift: 
die  in's  Unmögliche  fortgesetzte  Abstraktion,  die  Verwechselung 
zwischen  Beziehung  auf  dasselbe  und  Beziehung  auf  Anderes  und 
die  Confusion  von  Beziehungen  und  Begriffen  als  Solchen,  die  sich 
unter  und  aus  einander  sollen  entwickeln  können. 

Aber  Avir  müssen  es  abwehren,  wenn  Anschauung  und  Be- 
wegung als  heimlich  eingeschmuggelte  Krücken  der  dialektischen 
Methode  sollen  nachgewiesen  werden;  wenn  behauptet  wird,  dass 
mit  ihnen  die  Dialektik  nun  ihrer  Absicht  genugthun  könne,  ja 
dass  überhaupt  die  Einheit  des  Seins  und  Denkens  durch  die 
logischen  Untersuchungen  erwiesen  sei. 


(Diese  Untersuchungen,  indem  sie  häufig  von  Meistern  ab- 
weichen, indem  sie  Alles  zu  prüfen  und  das  Beste  zu  behalten 
suchen,    sind    sich  selbst  die  Erklärung  schuldig,    dass   sie  für 


—    62 


weiter  nichts  gelten  wollen,  als  für  eine  eigene  Ueberzeugung  und 
ein  Resultat  eigenen  Nachdenkens.  Dieses  Resultat  kann  nur 
den  Krtäften  angemessen  sein;  es  muss  sich  trösten  in  dem  Be- 
wusstsein,  dass  eigene  Ueberzeugung,  und.  wäre  sie  noch  so  irrig, 
mehr  werth  ist  als  hundert  nachgeschwatzte  unumstössliche  Wahr- 
heiten. Das  Geschäft  der  Philosophie  der  nächsten  Zukunft  wird 
voraussichtlich  darin  bestehen,  das  Ueberkommene  zu  verarbeiten, 
zu  sichten  und  Vieles,  Vieles  wegzuwerfen.  Man  meint  oft  bei*m 
Studium  der  neueren  Philosophie,  Kant's  Kritiken  seien  gar  nicht 
geschrieben  worden,  so  sehr  ist  über  sie  hinaus-,  aber  damit  auch 
wieder  hinter  sie  zurückgegangen  worden. 

In  jedem  Falle:  auch  der  Weiseste  kann  irren;  auch  die 
Weisesten  haben  geirrt.  Und  man  kann  mit  einem  Weisen,  einem 
Lehrer  verschiedener  Ansicht  sein,  und  doch  erkennen  (d.  h. 
dankend  verstehen),  was  man  seiner  Lehre  —  in  doppeltem  Sinne 
—  schuldig  ist.) 


Ifer  Verfasser  ist  geboren  zu  Neisse  am  18.  October  1845  als  einziger 
Sohn  eines  Kreisgerichtsraths ,  protestantischen  Glaubens,  besuchte  die 
Elementarschule  seiner  Vaterstadt,  die  gelehrten  Anstalten  zu  Krotoschin, 
Schroda,  Schulpforte  und  Breslau  (Magdalenaeum),  die  Universitäten  Breslau, 
Berlin  und  Halle,  mit  mehrfachen  Unterbrechungen  durch  Militärdienst 
und  vierjährige  Thätigkeit  als  Hauslehrer,  absei virte  das  Examen  pro  fac. 
doc.  im  November  1873,  das  philos.  Rigorosum  im  Juli  d.  J.  und  übernahm 
am  1.  October  d.  J.  provisorisch  eine  Lehrerstelle  am  Königl.  Gymnasium 
zu  Lissa. 

Für  geistige,  gesellschaftliche  und  materielle  Förderung  sei  hier  öffent- 
lich der  innigste  Dank  ausgesprochen  den  Herren  Geh.  Reg.-Rath  Dr. 
Schneider  in  Berlin,  Geh.  Sanitätsrath  Dr.  Laehr  in  Zehlendorf,  Pro- 
fessor Dr.  Hermes  in  Steglitz,  Director  Prof.  Ziegler  in  Lissa,  Director 
Dr.  Volk  mann  in  Elberfeld,  Dr.  Schottmüller  in  Zehlendorf,  sowie 
den  Herren  Professoren  Rossbach,  Hertz,  Braniss,  Bernays  in 
Breslau,  Curtius,  Droysen,  Harms,  llübner  in  Berlin,  v.  Holtzen- 
dorff  in  Heidelberg,  Erdmann,  Ulrici,  Dümmler,  Keil  in  Halle. 

Den  zu  früh  Vollendeten:  Professoren  K  ober  stein,  Haase,  Haupt, 
Trendelenburg,  Steinhardt,  Director  Dr.  Schönborn,  Justizrath 
G.  A.  Scholtz  ein  dankbares  und  wehmüthiges  „havete,  care  anbnae!" 


*)   An  Stelle   des    leider   verhinderten   Herrn  Dr.  Braxator  ist  Herr 
Cand.  jiir.  Hugo  Laehr  aus  Berlin  gütigst  als  Oi>|)onent  eingetreten. 


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L 


THESEN.*) 


I. 


Selbstliebe  ist  der  einzi^re  ursprüngliclie  Griindtrieb  des 
Menschen.  (Erster  Deputirsatz  des  Joseph  Wiehri  1780.  — 
Vgl.  Michl,  Kirchengesch.    Bd.  IL    Ad  §.  99  b.) 


II. 

Die  s'jocc.j^v'.'ct  kann  nicht  das  Fundament  der  Ethik  bilden. 

in. 

Mit  Unrecht  wird  in  des  Horatius  XIV.  Ode  des  I.  Buchs 
nach  dem  Vorgange  des  Quintilian  unter  dem  Bilde  des  Schiffes 
der  römische  Staat  verstanden. 

IV. 

Gegen  die  allgemeine  Annahme  ist  mit  Peter  (Tabellen  zur 
Griech.  Gesch.,  2.  Aufl.  S.  132)  die  Schlacht  bei  Ipsus  in's  Jahr 
300  V.  Chr.  zu  setzen. 


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COLUMBIA  UNIVERSi;  Y 


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